ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Castel, Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, Hamburger Edition, Hamburg 2009, 122 S., brosch., 15,00 €.

Die Jugendunruhen in zahlreichen französischen Vorstadtvierteln im Herbst 2005 haben aus mehreren Gründen auch in der internationalen Medienlandschaft ein breites Echo hervorgerufen. Zunächst weil sich die Frage aufdrängte, ob es denn anderswo zu ähnlich gewaltigen Protestausbrüchen kommen könne, gerade unter jungen Menschen aus Migrationskontexten. Dann weil Dauer und Dimension des Aufbegehrens selbst für französische Verhältnisse ungewöhnlich bis einzigartig waren. Schließlich weil die Reaktionen der ,Großen Politik' mehrfach Anflüge von Panik und wenig Staatsmännisches verrieten, etwa bei der Dekretierung des Notstands für das gesamte Gebiet der Metropole unter Rekurs auf ein Gesetz aus dem Algerienkrieg. Der Auslöser für die Jugendkrawalle im Herbst 2005 konnte ,klassischer' kaum sein: Stets bildeten seit den frühen 1980er Jahren Zwischenfälle mit Polizeikräften den unmittelbaren Anlass; häufig - bei Unruhen eines gewissen Ausmaßes - der Tod eines Jugendlichen aus dem Viertel im Kontext polizeilicher Maßnahmen oder Interventionen. Dies war im Herbst 2005 nicht anders. Erklärungsbedürftig erschien jedoch der hexagonale Flächenbrand, den dies heraufbeschwor, erklärungsbedürftig blieben Expansion und Eskalation, blieben die konjunkturellen und strukturellen Vektoren und Mechanismen, die dafür verantwortlich zeichneten.

Das vorliegende Buch des Pariser Soziologen Robert Castel setzt hier an und nimmt die Ereignisse von 2005 zum Anlass, um die französische Gesellschaft kritisch unter die Lupe zu nehmen und auf die gravierenden Konsequenzen zunehmender Benachteiligung aufgrund sozialer Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit von Menschen aufmerksam zu machen. Dass Castel dem Leser kein Katastrophenszenario präsentieren mag, wird von Anfang an klargestellt: Frankreich stehe nicht am Abgrund, und es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass dies in Zukunft der Fall sein wird, heißt es einleitend (S. 15). Zugleich aber müsse es darum gehen, durch politisches und soziologisches Nachdenken dazu beizutragen, die Mechanismen negativer Diskriminierung zu überwinden. Als „negative Diskriminierung“ definiert Castel in Abgrenzung zu Formen positiver Diskriminierung, die Benachteiligte potenziell begünstigen, das Betonen und Festklopfen ethnischer Unterschiede, mit dem Ziel, aus der Differenz einen auf Dauer angelegten Makel zu konstruieren. Negativ diskriminieren meint, eine Person wegen einer Eigenart, wegen eines Zugehörigkeitsmerkmals abzustempeln und zu stigmatisieren.

Die fünf Hauptkapitel bieten eine kohärente Argumentation, die die Unruhen im Herbst 2005 als einen „Aufstand der Verzweiflung“ (S. 17) erscheinen lassen. Ein Aufstand der Verzweiflung derer, die - nicht zuletzt aufgrund negativer Diskriminierung - kaum Zukunftsperspektiven erkennen können und die zugleich symbolisch - wie die classes dangereuses des 19. Jahrhunderts - die ganze Last einer politisch ungelösten sozialen Frage zu schultern haben. Sündenböcke, die mehr als andere Opfer des gesellschaftlichen Wandels der letzten zweieinhalb Jahrzehnte sind und keine Verantwortung tragen für die wachsende Kluft zwischen arm und reich, für massenhafte Arbeitslosigkeit, für verschlechterte Wohn- und Arbeitsbedingungen, für faktische oder potenzielle Spiralen des sozialen Abstiegs, für weit verbreitete Bedrohungs- und Unsicherheitsgefühle aller Art (S. 65ff.) - ein „Aufstand der Verzweiflung“, der sich freilich nicht monokausal erklären lässt.

Deutlich wird, dass der ,französische Herbst' 2005 einer mehrfachen Dimensionierung bedarf. Einmal einer zeithistorischen, die darauf verweist, dass die Banlieue seit dem Entstehen im Zweiten Kaiserreich stets die Phantasie von Bewohnern wie Beobachtern beflügelt und im Zentrum wiederholt Vorstellungen eines unheimlichen, fremden und barbarischen Niemandslands an der Peripherie heraufbeschworen hat. Bemerkenswert ist zudem, dass die Hochhaussiedlungen sich anfangs positiver Wertschätzung erfreuten, als Symbole der Moderne galten, zumeist junge ambitionierte Menschen verschiedener sozialer wie geografischer Herkunft beherbergten und erst mit dem Auslaufen der Nachkriegsexpansion als ,Bann-Raum' für sozial Randständige ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit drangen.

Überdies gilt es, die massenmediale Dimension des Phänomens zu berücksichtigen, denn seit Jahren sind es die Massenmedien, allen voran bestimmte TV-Formate, die als Stichwortgeber für Alltagsgespräche, Politdiskurse und Parteienwettbewerb fungieren. Formatzwänge und Medienwettbewerb generieren schablonenhafte, aber wirksame gesellschaftliche Repräsentationen. ,Ortseffekte' (Bourdieu) entstehen: Wirkungskontexte, die Räume einseitig konnotieren und Banlieusards, ohnehin mit geringem symbolischem oder wirtschaftlichem Kapital ausgestattet, fast unwiderruflich an den ,Bann-Ort' fesseln. Dass die doppelte Konkurrenz, zwischen den Medien und zwischen den Cités, die räumliche Ausdehnung der Jugendkrawalle 2005 begünstigt hat, als nach gut einer Woche die Grenzen der Pariser Großregion überschritten waren, liegt auf der Hand.

Weiter sind die Ereignisse politisch-kulturell zu dimensionieren und damit generalisierte Nihilismus-Vorwürfe zu relativieren. Nur vordergründig lassen sich die Unruhen als selbstzerstörerischer, kontraproduktiver Protest, als politisch irrelevanter und sinnloser Gewaltausbruch interpretieren. Tatsächlich bewegten sich die jacqueries de banlieue in den Spuren ,bester' politischer Tradition seit den blutigen, vorgeblich unpolitischen Bauernaufständen Mitte des 14. Jahrhunderts: Das Entladen aufgestauter Wut als kommunikativer Akt derer, die an der Peripherie ohne Sprachrohr im Zentrum sind und ohne Zugriff auf institutionalisierte Formen politischer Interaktion. Völlig zu Recht betont Robert Castel die eindeutige politische Bedeutung der Vorfälle, auch dass Wut und Verzweiflung eine Menge zu tun haben mit einem enttäuschten Verhältnis zur citoyenneté, mit dem Graben zwischen republikanischen Versprechen und der tagtäglich gelebten Realität (S. 54ff.).

Nicht unterschätzt werden darf weiterhin die politisch-systemische Dimension des jugendlichen Aufbegehrens. Denn fraglos steht es auch für Funktionsdefizite des Regierungssystems, der repräsentativen Demokratie und der politischen Willensbildung. Es sind Schwächen, die eine aktive ,Straßenpolitik' förmlich provozieren und die helfen können, die zuletzt vielen spektakulären Protestwellen sowie zahllose kleinere Demonstrationen mit punktuellen Anliegen zu erklären: pyramidal konzentrierte Macht, technokratisches Regieren, schwache intermediäre Instanzen, defizitäre Kooperations- und Verhandlungskultur. Um sich angesichts dessen politisch Gehör zu verschaffen, gehen nicht nur Jugendliche auf die Straße, sondern auch lothringische Bergleute, bretonische Bauern oder südfranzösische Winzer: mit hohem Gewaltpotential. Dass führende Repräsentanten der classe politique - wie der damalige Innenminister und heutige Staatspräsident Nicolas Sarkozy - seit Langem, auch im Herbst 2005, in Banlieue-Brennpunkten eher Öl ins Feuer gießen als Brände zu löschen, scheint symptomatisch für den inadäquaten Umgang mit sozialen Schieflagen im Land. Nicht weniger, dass in Fragen der Einwanderungspolitik und Jugendkriminalität nunmehr manche Position des rechtsextremen „Front National“ in Regierungspolitik gegossen wird (S. 77).

Besonders akzentuiert Robert Castel in seinem Buch schließlich die ethnische Dimension sowohl der Vorstadtunruhen als auch der gesamtgesellschaftlichen Malaise in Frankreich. Zwar lasse sich diese nicht isoliert betrachten, stets gelte es in der dominanten Repräsentation eines Vorstadtjugendlichen einen kaum entwirrbaren Merkmalskonnex im Auge zu behalten: Geschlecht (männlich), Altersgruppe (jung), ethnische Herkunft (maghrebinisch, subsaharisch), politische Staatsbürgerschaft (französisch) und soziale Lage (prekär). Offensichtlich sei aber auch, dass ein ethnischer Faktor die soziale Not verstärke (S. 37), dass ethnische Minderheiten eine „doppelte Benachteiligung der Rasse und der Klasse“ erfahren (S. 95) und dass die französische Republik davor bis heute die Augen versperre. In zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in denen Differenz zu Defizienz werde, besäße offenbar das Postulat auf Rechts- und Chancengleichheit für Jugendliche mit Migrationshintergrund faktisch kaum Gültigkeit: bei der Behandlung durch Polizei und Justiz, in Beschäftigung und Beruf sowie im Bildungsbereich ganz allgemein. Robert Castel zufolge waren die Unruhen 2005 auch eine gegen das staatsbürgerliche Defizit gerichtete Revolte.

Eng damit verbunden sind - der französische Original-Untertitel „Citoyens ou indigènes?“ bringt dies besser zum Ausdruck als der deutsche - postkoloniale Aspekte der Thematik. Im Kern geht es nicht um die Frage, ob der französische Staat noch einen Kolonialstaat bildet. Eher darum, ob bestimmte Grundzüge kolonialen Denkens weiterhin gesellschaftlich verankert sind und ob nicht die Gegenwart der Banlieusards durch die Brille einer unverdauten kolonialen Vergangenheit betrachtet wird. Es entstehe so etwas wie eine „erbliche Einwanderersituation“ (Balibar) für „Eingeborene der Republik“, die zwar mittlerweile französische Staatsbürger seien, deren ethnische Herkunft aber eine völlige Integration potenziell verhindere (S. 84ff.). Ziel müsse sein, Menschen mit ethnisch-kulturellen Besonderheiten die volle politische und soziale Staatsbürgerschaft angedeihen zu lassen: durch Akzeptanz der Fakten und Anerkennung des pluriethnischen und plurikulturellen Charakters Frankreichs seitens der Republik, durch Maßnahmen positiver Diskriminierung und durch das Fortschreiben territorialisierter stadtpolitischer Ansätze unter verbesserten finanziellen Bedingungen, die ein Mehr an praktischer Umsetzung erlauben (S. 97f.).

Die Hamburger Edition hat gut daran getan, das Buch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Gerade für Nicht-Experten bietet es eine verlässliche, aufschlussreiche und verständliche Einführung in aktuelle französische Gesellschaftsdebatten, zumal Robert Castel mit seinem durch und durch scheuklappenfreien Blick manch tief verankertes Vorurteil aus dem Weg räumt. Denn selbstverständlich sind selbst die schwierigsten französischen Banlieue-Viertel keine Gettos nach amerikanischem Muster, sind die Siedlungen nicht nur ein Raum akkumulierter Handicaps und Miseren, sondern auch Orte der Konvivialität und Kreativität, sind die Verhältnisse dort noch weit entfernt von kommunitaristischen Szenarien und sind gerade im westeuropäischen Vergleich manche Indikatoren funktionierender Integration - per se Prozesse der langen Dauer, unabhängig von der geografischen Herkunft der Migranten - kaum von der Hand zu weisen.

Auch lassen sich die Vorstadtjugendlichen kaum umstandslos als radikal ausgegrenzt bezeichnen. Trotz bikultureller Bezüge sind sie durch Schule und Freizeit, durch Sprachpraxis und Banlieue-,Ästhetik', durch medialen Konsum und kulturelle Bezüge von „ihrer Grundkultur eindeutig französisch“ (S. 34). Nicht Frankreich und die Republik als solches stellt die übergroße Mehrheit in Frage, eher die Tatsache, dass die in Sonntagsreden proklamierten Versprechen nicht eingehalten werden und keine Verbesserung des eigenen Lebensalltags nach sich ziehen. Fast kleinbürgerlich muten die Vorstellungen von einem ,normalen' Leben an. Ganz überwiegend teilen jedenfalls die Banlieusards die Werte und Ideale der Gesamtgesellschaft und orientieren sich damit eng am klassischen republikanischen Modell. Ziele sind, vorbehaltlos staatsbürgerlich anerkannt zu werden, gleichberechtigt gesellschaftlich dazugehören, wirtschaftlich teilhaben und sozial aufsteigen zu können. Wer sich ein wenig mit populärkulturellen Ausdrucksformen der letzten Jahrzehnte aus dem Umfeld schwieriger Vorstadtviertel beschäftigt hat, der weiß das seit Langem. Es ist nicht das geringste Verdienst von Robert Castel, dies aus soziologischer Perspektive noch einmal entgegen gängiger Einschätzungen hervorgehoben zu haben.

Dietmar Hüser, Kassel


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