ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

In der Türkei ist in den vergangenen Monaten etwas in Bewegung gekommen, wovon zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht klar ist, wo es hinführen wird. Im sogenannten Ergenekom-Prozess wurden zu Beginn des Jahres 2009 erstmalig hochrangige Militärs vor Gericht gestellt, deren Ziel es gewesen sein soll, gegen die gemäßigt islamische Regierung des Landes zu putschen. Vergleichbares hatte es in der Türkei, wo das Militär in den vergangenen Jahren bereits viermal eine Regierung gestürzt hat, noch nicht gegeben. Anfang Oktober 2009 dann die Nachricht, dass die Türkei nach fast einem Jahrhundert der Feindseligkeiten mit den Armeniern eine Normalisierung der Beziehungen anstrebt. Nach zähen Verhandlungen, die immer wieder am Rande des Scheiterns standen, unterzeichneten die Außenminister beider Länder in Zürich ein Abkommen, das unter anderem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der Grenzen vorsieht. In Kraft treten kann die Übereinkunft allerdings erst, wenn die Parlamente ihr zugestimmt haben. Ob dies geschehen wird, ist offen. Eine heftige öffentliche Kontroverse hierüber ist sowohl in der Türkei als auch in Armenien in vollem Gange. Türkische Nationalisten werfen ihrer Regierung Verrat am Partner Aserbaidschan vor; die Regierung in Armenien steht unter Beschuss von Teilen der armenischen Diaspora, die eine Annäherung ohne vorherige Anerkennung der Vernichtung und Vertreibung der Armenier durch die Osmanen während des Ersten Weltkriegs strikt ablehnt.

Das jedoch - und hier liegt ein zentrales Problem des Landes, nicht nur in den Beziehungen zum Nachbarn Armenien, sondern auch mit der Europäischen Union - wird die Türkei nicht tun, wenngleich der Völkermord unter Historikern unbestritten ist. Der Grund dafür ist moralisch ebenso zweifelhaft wie politisch nachvollziehbar: Ein mea culpa der Türkei wäre eine irreparable Beschädigung ihres ersten Präsidenten und allgegenwärtigen historischen Leitbilds Mustafa Kemal Atatürk. Dies gilt es nach Auffassung der Mehrheit der Eliten unter allen Umständen zu verhindern, zumal davon allen voran die islamisch-reaktionären Kräfte im Land, denen die säkulare Ausrichtung der Republik seit jeher ein Dorn im Auge ist, profitieren würden. Dass derlei Befürchtungen nicht gänzlich unbegründet sind, zeigt ein Blick in die Geschichte der Türkei. Mehrfach, zuletzt 1997, musste das Militär in die Politik eingreifen, um das kemalistische Erbe gegen die Angriffe antisäkularer und antirepublikanischer Kräfte zu verteidigen.

Diese historische Grundkonstellation der Türkei führt im Westen immer wieder zu einem etwas paradoxen Unbehagen. Es ist für westliche Beobachter befremdlich, wenn selbst gut ausgebildete junge Türken in Berlin, London oder Amsterdam die Verbrechen der Osmanen an den Armeniern ernsthaft in Abrede stellen; zugleich jedoch führt es zu merklichen Irritationen, wenn die gemäßigt islamische Regierungspartei AKP auf parlamentarischem Weg einen Verfassungszusatz anstrebt, der es den Frauen ermöglicht, mit Kopftuch zu studieren - in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Die EU-Staaten wünschen sich eine Türkei nach europäischem Vorbild, in der Religiosität allenfalls im privaten Raum eine Rolle spielt; gleichzeitig kritisieren sie ihre mangelnde Zivilstaatlichkeit, da die Armee über Machtbefugnisse wie in keinem anderen europäischen Land verfügt. Dass das Militär in der Geschichte der Türkei seit jeher eine Sonderstellung einnimmt, steht außer Frage. Kein EU-Mitglied verfügt über eine vergleichbare Massenarmee aus Wehrpflichtigen mit fast universalem Wehrdienst; politische Gewalt zählt zu den Grunderfahrungen der jüngeren türkischen Geschichte; rund 30.000 türkische Staatsbürger, meist Kurden, kamen während des Bürgerkriegs der vergangenen Jahre ums Leben. Gleichwohl war die Armee in den vergangenen Jahren immer wieder der Garant für den Bestand der türkischen Republik; und es ist - neben der geografischen Lage - allen voran ihre militärische Stärke, die die Türkei zu einem gefragten Verbündeten des Westens und einem NATO-Mitglied von zentraler Bedeutung macht.

Im November 2008 jährte sich der Todestag Mustafa Kemals, der ab 1934 als Ehrenbezeichnung den seither gesetzlich geschützten Namen Atatürk trug, zum 70. Mal. Zahlreiche Verlage haben dies zum Anlass genommen, Neuerscheinungen über den ,Vater der Türken' ins Programm zu nehmen. Hinzu kam, dass im selben Jahr die Türkei Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war. Und obwohl die Ansätze in den hier besprochenen Bücher unterschiedlich sind - Dietrich Gronau und Klaus Kreiser wählen eine biografische Herangehensweise, Perry Anderson nähert sich dem Thema essayistisch - haben sie eines gemeinsam: Sie gehen allesamt der komplexen Frage nach, wie das Leben und Wirken Atatürks die moderne Türkei bis in die Gegenwart prägen und warum das Land von seiner Vergangenheit so schwer loskommt, obwohl sein Gründervater nichts dringender wünschte, als es in die Zukunft zu führen.

Entsprechend betont der in Berkeley lehrende Historiker Perry Anderson in seiner Aufsatzsammlung „Nach Atatürk“ - die drei abgedruckten Texte erschienen im Original in der London Review of Books -, dass die weitere Entwicklung der Türkei maßgeblich von ihrer Vergangenheit abhänge, genauer gesagt: vom Umgang mit dem Erbe ihres Staatsgründers Atatürk. Dazu zählt unter anderem, dass Atatürk über den Massenmord an den Armeniern im Bilde war und in seiner weiteren Laufbahn wiederholt auf Leute setzte, die aktiv an der Durchführung der Verbrechen beteiligt waren; mehr noch, er verklärte sie öffentlich zu ,nationalen Märtyrern' im Dienste der türkischen Sache. Wer hierauf hinweist, macht sich in der Türkei bis heute strafbar. Alles in allem zeichnet Anderson Atatürk als radikalen Reformer, der im Umfeld von Kriegen und ethnischen Säuberungen seine Vorstellungen eines nationalen Türkentums ebenso konsequent wie rücksichtslos umsetzte und so das Antlitz der Türkei bis in die Gegenwart prägte. Gegen einen Beitritt der Türkei zur EU, den Anderson prinzipiell befürwortet, lassen sich bezeichnenderweise drei Argumente anführen, die allesamt direkt oder indirekt auf das Erbe Atatürks zurückzuführen sind: Die seit 1974 andauernde türkische Besetzung des Nordens der Insel Zypern, die systematische Diskriminierung von Minderheiten wie Christen, Kurden oder Alewiten sowie die fortdauernde Leugnung des Genozids an den Armeniern, „nach dessen Haupttätern im ganzen Land Schulen und Straßen benannt sind.“ Werden diese Fragen beantwortet, so Anderson, steht einer EU-Mitgliedschaft der Türkei nichts mehr im Wege. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei deuten vorsichtig an, dass dies nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, wenngleich der Weg dorthin sicherlich noch ein weiter ist.

Ausführlich mit Person und Lebensweg des ersten Präsidenten der Türkei beschäftigen sich der Bamberger Turkologe Klaus Kreiser und der Berliner Schriftsteller Dietrich Gronau, deren umfassende und mit zahlreichen Abbildungen versehene Atatürk-Biografien beim Münchner Verlag C. H. Beck beziehungsweise bei Herder in Freiburg erschienen sind. Wie detailliert insbesondere Kreiser dabei vorgeht - seine Studie ist die die bislang ausführlichste in deutscher Sprache -, zeigt der Umstand, dass er der Nacherzählung der Titel und Ehrenbezeichnungen, die Atatürk bereits zu Lebzeiten von seinen Landsleuten zuteil wurden, ein eigenes Kapitel widmet. „Ne mutlu Türküm diyene“, „Glücklich ist der, der sich Türke nennt“, so lautete einer der Leitsätze des Kriegshelden, Generals und späteren Präsidenten, der 1919 seinen politischen Wegbegleitern ein politisches Programm vorlegte, das selbst bei diesen wegen seiner Radikalität Stirnrunzeln hervorrief. Unter anderem war darin die Abschaffung des arabischen Alphabets sowie des Schleierzwangs für Frauen vorgesehen; wenn Kemal Mustafa allen Türken ihr Glück versprach, dann waren damit stets auch die Frauen gemeint. An seinem autoritären Charakter und autokratischen Politikstil änderte dies freilich nichts; entsprechend sieht Kreiser in der Türkei Atatürks alle Züge einer ,modernen Autokratie'; ihrem ersten Präsidenten bescheinigt er, ein Demokrat gewesen zu sein, der alles daran setzte, allein zu regieren. Gleichwohl räumt Kreiser ein, dass insbesondere zu Beginn der Amtszeit Atatürks eine Alternative hierzu kaum denkbar erschien. Der Niedergang des Osmanentums galt unter fachkundigen Beobachtern im In- und Ausland bereits geraume Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit verbundenen politischen Aufstieg Atatürks als beschlossene Sache; zu groß waren die Ungleichheiten gegenüber dem restlichen Europa im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts geworden; sowohl militärisch als auch wirtschaftlich hatte die Türkei den Anschluss an das industrialisierte Europa zunehmend verloren, was dazu führte, dass das einstige Großreich immer mehr zum Spielball der Begehrlichkeiten der europäischen Mächte wurde. Atatürk und seine jungtürkischen Weggefährten hatten das bereits um die Jahrhundertwende erkannt; entsprechend entschlossen war ihr Durchgreifen, als die Macht - rund 20 Jahre später - schließlich in ihren Händen lag. Mit Nachdruck machten sie sich daran, die Türkei in einen Nationalstaat nach europäischem Vorbild zu verwandeln. Dass dies nicht ohne gewaltsame Begleiterscheinungen vonstatten geht, zeigt ein Blick in die Geschichte der Nationalstaatswerdungen weltweit. Die Unterdrückung und Verfolgung nichtmuslimischer Minderheiten bleibt bis in die Gegenwart eine traurige Konstante; und auch der Assimilierungsdruck auf die kurdischen Bevölkerungsteile lockert sich erst seit Kurzem.

Auch Dietrich Gronau widmet in seinem „biographischen Portrait“ den Monaten nach Ende des Ersten Weltkriegs und vor Ausbruch des türkischen Befreiungskriegs, der 1923 mit dem Austausch von Teilen der griechischen und türkischen Bevölkerung in Kleinasien endete, ein besonderes Augenmerk. Der Zeitpunkt symbolisiert den Übergang Atatürks von der langjährigen theoretischen Beschäftigung mit Fragen der Zukunft der Türkei hin zu ersten konkreten Schritten in Richtung nationaler Freiheit und staatlicher Neubildung. Atatürk war fest entschlossen, wie er seinem Tagebuch anvertraute, im Falle der Macht die notwendigen Reformen ebenso schnell wie kompromisslos durchzusetzen. Diesem Vorsatz blieb er in den kommenden Jahren treu: 1924 wurde das Kalifat abgeschafft; 1926 kam das bürgerliche Gesetzbuch nach Vorbild der Schweiz, das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht folgten kurze Zeit später. Mit dem türkischen Code civil trat das westliche Eheschließungs- und Scheidungsrecht in Kraft; der Schleierzwang wurde abgeschafft, 1933 erhielten die Frauen aktives und passives Wahlrecht; seit 1925 wurden alle Staatsbürger gezwungen, westliche Kleidung zu tragen. Natürlich wusste Atatürk, dass alle diese Maßnahmen ohne diktatorische Vollmachten nicht durchzusetzen waren. Daher nahm er sich die dafür notwendigen Befugnisse; seine Alleinherrschaft stellte er in den Dienst der Aufklärung. Der Grat, den er damit einschlug, war ein schmaler. Er billigte die Massaker des Befreiungskrieges und ließ die Aufstände von Minderheiten mit äußerster Brutalität niederschlagen; mit sogenannten Unabhängigkeitsgerichten setzte er die Verfassung außer Kraft und öffnete so ein Einfallstor für staatliche Willkür. Nicht ohne Grund nannten ihn seine Zeitgenossen einen „türkischen Robespierre“. Und dennoch gelang ihm, was kaum einer für möglich gehalten hätte: Die Türkei binnen weniger Jahre in einen modernen Nationalstaat nach europäischem Vorbild zu verwandeln, wenngleich der Preis, der dafür bezahlt werden musste, hoch war.

Sowohl Gronau als auch Kreiser weisen in ihren biografischen Studien auf diese Zwiespältigkeit der Person und des Politikers Atatürk hin. Dabei gelingt es beiden Autoren, ein ausgewogenes, ausreichend differenziertes Bild des ersten Präsidenten der Türkei zu entwerfen. Wer einen ersten, gut lesbaren Überblick sucht, wird bei Gronau fündig; der wissenschaftlich interessierte Leser sollte zu Kreisers Buch greifen. Gemeinsam ist beiden Autoren das Interesse an der außergewöhnlichen politischen Strahlkraft Atatürks, die bis in die Gegenwart fortdauert. Hier wiederum bieten die Essays Andersons eine exzellente Anregung zum Weiterdenken.

Florian Keisinger, Düsseldorf


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 24. März 2010