ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirchen - Medien - Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945 (Geschichte der Religion in der Neuzeit, Bd. 2), Wallstein Verlag, Göttingen 2009, 266 S., brosch., 24,00 €.

Seit Anfang 2006 arbeitet an der Universität Bochum eine DFG-Forschergruppe, die sich mit der Transformation von Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Eine der Projektsektionen ist den „medialen Repräsentationen und Semantiken von Kirche und Religion“ gewidmet. Aus deren Forschungsarbeit gingen einige der Vorträge einer Tagung hervor, die Anfang April 2008 in Bochum stattfand, und deren Beiträge nun in gedruckter Form vorliegen.

Frank Bösch und Lucian Hölscher, die beiden Sektionsleiter und Herausgeber, skizzieren in ihrer Einleitung die Grundzüge des Verhältnisses von Massenmedien, Kirchen und Religion in der Bundesrepublik, wobei ihr Fokus auf den Veränderungen in der Fremd- und der Selbstbeschreibung der christlichen Großkirchen während der 1960er und 1970er Jahre liegt, die sie als einen dialektischen Prozess charakterisieren.

Im ersten Kapitel werden die medialen Interaktionen zwischen „Kirche und Welt“ untersucht. Nicolai Hannig zeigt, dass die Massenmedien bis Ende der 1950er Jahre eng mit den Kirchen kooperierten und affirmativ über sie berichteten. Danach wurde der Religionsjournalismus insbesondere im Fernsehen und in den Illustrierten kritischer und konfliktorientierter. Über reformtheologische Ansätze wurde zunächst wohlwollend berichtet. In den ausgehenden 1960er Jahren habe sich dies aber verändert, worin Hannig eine „neuerliche konservative Trendwende“ in den publizistischen Religionswahrnehmungen sieht. Tatsächlich neigten die beiden Verleger Axel Springer und Rudolf Augstein aufgrund ihres Religions- und Kirchenverständnisses eher kirchlich-konservativen Positionen zu. Wichtig ist Hannigs Befund, dass die mediale Präsens der Themen Religion und Kirchen in der Bundesrepublik während der 1960er und 1970er Jahre nicht ab-, sondern zugenommen und sich ihre journalistische Wahrnehmung pluralisiert hat. Ein zweiter Beitrag führt in ein Land mit anderen religiösen Traditionen und Strukturen: die USA. Uta Andrea Balbier, Wissenschaftlerin am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C., forscht über die Erweckungsveranstaltungen Billy Grahams in den 1950er Jahren. Sie versteht diese als Orte, an denen Prediger, Publikum, Massenmedien und Marketing zusammen eine neoevangelikale Religiosität generierten. Graham verstand es auf dem religiösen Markt der USA, ein Angebot zu machen, das traditionelle, fundamentalistische Wertvorstellungen mit einer nationalen, antikommunistischen Selbstvergewisserung verband sowie eine Aussöhnung des Fundamentalismus mit der Konsumorientierung der aufstrebenden Mittelklasse ermöglichte. Er steht mit seinen Crusades am Beginn einer eigenen Form religiöser Vergemeinschaftung und einer modernen populären Medienreligion.

Drei Beiträge sind den visuellen Entwürfen von Kirche und Religion gewidmet. Benjamin Städter beschreibt den Wandel im medial vermittelten Bild des Geistlichen: den Verwalter kirchlicher Sakramente in den Massenillustrierten und die ländliche Autorität im Heimatfilm der 1950er Jahre, den suchenden Geistlichen im religiösen Film, das desavouierte Priesterbild im Zölibatsfilm, die diskutierenden und protestierenden Pfarrer sowie der am Zölibat scheiternde Priester in den Illustrierten der 1960er Jahre. Mit der Produktion und Verbreitung dieser Bilder gaben die Medien nicht nur die Transformationsprozesse von Kirche und Religion in den 1960er Jahren wieder, sondern gestalteten sie nach Ansicht Städters auch mit. Insgesamt kann eine Pluralisierung des Pfarrerbildes in den Medien festgestellt werden. Jürgen Kniep, dessen Freiburger Dissertation über die Filmzensur in der Bundesrepublik 2010 erscheinen wird, untersucht das „Wächteramt“ der Kirchen gegenüber dem Film während der 1950er Jahre. Über die Mitarbeit in der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, über hauptamtliche Filmreferenten und eigene Filmzeitschriften versuchten die Kirchen das Filmangebot und seine Rezeption mit dem Ziel der religiösen Erziehung und Imagepflege zu kontrollieren. In den 1960er Jahren veränderte sich dann das Verhältnis von Kirche, Film und Filmzensur. Die Presse stellte das bestehende System der Filmkontrolle gegenüber Erwachsenen in Frage und kritisierte die Beteiligung der Kirchen daran. Meinungsfreiheit wurde nun höher bewertet als die mögliche Verletzung des religiösen Empfindens; auch galt Religiosität immer stärker als Teil der Privatsphäre. Die Kirchen zogen sich daraufhin 1971 aus der Erwachsenenfreigabe zurück. Die konfessionellen Filmexperten hatten allerdings zwischenzeitlich ihre Positionen bereits weiterentwickelt; die genuin moralische Filmbewertung war durch ästhetische Kriterien ergänzt worden. Der Münsteraner katholische Theologe Reinhold Zwick, der im Autorenverzeichnis vergessen wurde, beschreibt die Veränderungen religiöser Vorstellungen in Kinofilmen und zieht hierzu Filme von Regisseuren aus unterschiedlichen religiös-kulturellen Kontexten wie Spanien, Schweden, Frankreich, den USA, Italien und Deutschland heran. Zwick macht in den ,langen' 1960er Jahren fünf Entwicklungen aus: die Etablierung des Films als Medium der Religions- und Kirchenkritik, die Umbrüche im Genre der Bibelfilme, die Entwicklung des Films zum Forum der Entkonfessionalisierung und einer religiös-spirituellen Suchbewegung, die Kritik an der kirchlichen Morallehre, aber auch die Aufnahme religiöser Symbolisierungen in Filmen der „sexuellen Revolution“ sowie die Bedeutung provokativer, blasphemischer Elemente in den „Late Night Movies“.

Im letzten Kapitel werden die Reaktionen der kirchlichen Medien und Öffentlichkeiten auf die Transformationen untersucht. Sven-Daniel Gettys analysiert anhand von vier kirchlichen Zeitschriften die Kontroversen der theologischen und administrativen Funktionseliten über die Konzepte von „Volkskirche“ und „Gemeindekirche“ auf evangelischer Seite und von „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ auf katholischer Seite. Er arbeitet in seinem interkonfessionellen Vergleich eine Anzahl von Gemeinsamkeiten in Verlauf und Semantik dieser Richtungsdebatten während der 1960er und 1970er Jahre heraus, hinter denen sich aber auch markante Differenzen verbergen. Interessant wäre es zu prüfen, ob die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus noch eine Rolle in den Diskursen über Wesen und Gestalt der Kirche spielten, wie sie dies zweifelsohne in den 1940er und 1950er Jahren getan hatten. Thomas Mittmann untersucht ebenfalls diskursiv-semantische Transformationen kirchlicher Selbstentwürfe in Reaktion auf gesellschaftliche und religiöse Veränderungen, nunmehr am Beispiel der Akademien als wichtige Agenturen der „Modernisierung“ kirchlicher Konzepte. Doch auch hier werden, neben vielen Gemeinsamkeiten angesichts einer shared history (Kirche als Kommunikationsgemeinschaft, Pluralisierung des Kirchenverständnisses, funktional-überräumliches Bild von Kirche, Kirche als Dienstleistungsunternehmen), gerade seit Ende der 1960er Jahre auch konfessionelle Unterschiede deutlich: Während sich die evangelischen Akademien zunehmend als Teil der Gesellschaft verstanden und eine advokative Funktion für soziale Gruppen übernahmen, sahen die katholischen Akademien die Welt stärker als ein Gegenüber zu den Kirchen, waren enger an die kirchliche Hierarchie gebunden und blieben bei ihrer Lotsenrolle und einem absoluten Wahrheitsanspruch. Etwas problematisch ist der abschließende Beitrag der Theologin Susanne Böhm zu den Veränderungen der Selbstbeschreibung evangelischer Akademien in der DDR. Er ist zu knapp, um wirklich Unterschiede, aber auch Wechselbezüge zur Entwicklung im Westen analytisch beschreiben zu können. Dominierte, so ist auch zu fragen, in den evangelischen Akademien wirklich die Exklusionssemantik? Wie ordnet man etwa das in den 1960er Jahren von den beiden Akademieleitern Gerhard Bassarak und Elisabeth Adler vertretene Konzept der „Proexistenz“ ein?

Insgesamt bietet der Band wichtige Einblicke in den Prozess der Medialisierung des Religiösen und in die Reformen der kirchlichen Kommunikation in einer Zeit gesellschaftlicher und religiöser Transformationen. Man darf auf die weiteren Arbeiten der Forschergruppe gespannt sein.

Claudia Lepp, München


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