ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anna Schnädelbach, Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 59), Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009, 366 S., kart., 36,90 €.

„Mein Mann hat man mir in den Tod gejagt nach Russland hinein [...]. Stände heute noch einmal mein Mann vor mir mit den Worten Mama du wirst erleben ich komme nicht wieder. Dann würde ich vorher zu den Herrn Kommandierenden gegangen sein und Sie lieber auf den Haufen geschossen haben als mein ganzes Glück zu opfern. Also mein Sohn arbeitet mir da wo ich will, oder nichts und ich verlange von Ihnen soviel dass wir leben können.“ Voller Verbitterung protestierte eine Kriegerwitwe 1947 gegen den von den Sozialbehörden der Stadt Marburg angeordneten Einsatz ihres kranken Sohnes bei Bauarbeiten. Das Schreiben ist ein eindringliches Dokument für die enormen ökonomischen, vor allem aber auch psychischen Folgen, die Frauen von gefallenen Soldaten in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu tragen hatten. Anna Schnädelbach widmet sich in ihrer 2007 abgeschlossenen Dissertation dieser sehr heterogenen Gruppe, die in den bisherigen Forschungen zur Sozialpolitik und zur deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit nur wenig Beachtung gefunden hat.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen - nach einer theoretischen Einleitung und einer Darstellung der rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen - drei Kernbereiche der Lebensrealität von Kriegerwitwen nach 1945: erstens die Praxis der Fürsorgebehörden und die Reaktion der Betroffenen darauf, zweitens die vor allem durch den drohenden Verlust staatlicher Unterstützung praktizierten „Onkelehen“ und drittens die in der Regel durch die materielle Not angestrebte und praktizierte, gesellschaftlich aber alles andere als erwünschte Erwerbsarbeit der Kriegerwitwen. Bei der Darstellung der beiden letztgenannten Bereiche geht es Schnädelbach ebenso um die Nachzeichnung der zeitgenössischen Debatten wie um die lebensweltliche Praxis. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist es, „das Agieren der Kriegerwitwen als historische Subjekte“ (S. 22) gegenüber staatlichen Institutionen herauszuarbeiten. Dementsprechend kommt Schnädelbach zu dem Fazit: „Kriegerwitwen entwickelten Strategien [...], passten sich an, entzogen oder wehrten sich offen, waren aber auch selbst aktiv an der Konstruktion ihres eigenen Bildes beteiligt.“ (S. 318). Dabei richtet Schnädelbach immer wieder den Blick auf das Verhältnis der Kriegerwitwen zu anderen, vom Krieg besonders betroffenen Gruppen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. So konkurrierten Kriegerwitwen, die nicht zuletzt aus materieller Not in großer Zahl eine Erwerbsarbeit aufnehmen mussten, beispielsweise direkt mit männlichen Kriegsbeschädigten um Arbeitsplätze. Während die Integration Letzterer in das Arbeitsleben gefördert wurde, orientierte die Sozialpolitik bei den Kriegerwitwen auf die Wiederherstellung der „Normalfamilie“, das heißt auf die Wiederheirat der betroffenen Frauen und somit auf die Rückkehr zu ihrer „eigentlichen“ Rolle als „Hausfrau und Mutter“ - Frauenerwerbsarbeit sollte die Ausnahme bleiben. Mit welcher Härte die damalige Politik auf das Problem „Kriegerwitwe“ reagierte, zeigt insbesondere der Umgang mit der „Onkelehe“, also dem unehelichen Zusammenleben einer Kriegerwitwe mit einem neuen Partner - bei Heirat verlor die Frau aufgrund der Gesetzeslage die Rente ihres gefallenen Mannes. So betonte etwa Familienminister Franz-Josef Wuermeling die angebliche Bedrohung bestehender Ehen durch vermeintlich wohlhabende Kriegerwitwen, die mit einer weitergezahlten Rente eine noch höhere „Anziehungskraft“ auf Ehemänner besäßen.

Während die Darstellung der zeitgenössischen Debatten auf einer relativ breiten Quellenanalyse basiert, erscheint die Absicherung derart weitreichender Aussagen wie der zur Lebensrealität der Kriegerwitwen etwas dünn. So stützt sich Schnädelbach in den betreffenden Abschnitten ihrer Arbeit weitgehend auf Akten des Marburger Fürsorgeamtes zu insgesamt 34 Kriegerwitwen, bei der Analyse der „Onkelehen“ zieht sie 50, nur zum Teil von Betroffenen formulierte Briefe an Wuermeling heran. Schließlich vermisst man bei einer derartigen Fragestellung auch - die von Schnädelbach bewusst ausgeklammerte - Oral History. Dies ist bedauerlich, hätte doch so die „Subjektivität“ der Frauen, ihre Heterogenität und nicht zuletzt ihr Umgang mit den psychischen und materiellen Belastungen viel deutlicher herausgearbeitet werden können. So verweist Schnädelbach immer wieder auf zentrale Aspekte der Lebensrealität, die angesichts der Quellenbasis unberücksichtigt bleiben mussten: „Der Hinweis einer Witwe, dass das Amt ,nicht alles wissen müsse', verweist auf die im Material nicht sichtbaren Aktivitäten der Frauen in dieser Zeit.“ (S. 161f.). Zentrale Strategieelemente bei der Bewältigung ihrer Lebenssituation - insbesondere auch bei der Umgehung behördlicher Eingriffe in ihre Privatheit - bleiben so außen vor.

Trotzdem erweist sich die Untersuchung als wichtige Studie, die den Blick auf eine am Rande der Wiederaufbaugesellschaft stehende Gruppe schärft. Welche Spätfolgen das Dasein als Kriegerwitwe hinterlassen hat, kann Schnädelbach dagegen selbstverständlich nur andeuten. Es bleibt zu hoffen, dass die Untersuchung weiterführenden Studien anregen wird.

Philipp Springer, Berlin


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