ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Chevandier/Jean-Claude Daumas (Hrsg.), Travailler dans les entreprises sous l'Occupation (Les cahiers de la MSH Ledoux, Nr. 10/Intelligence territoriale, Nr. 5), Presses universitaires de Franche-Comté, Besançon 2007, 523 S., kart., 15,00 €.

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines langjährigen Diskussionsprozesses unter der nicht neuen, aber doch sehr einsichtigen Prämisse, den spektakulären Aufschwung der französischen Unternehmensgeschichtsforschung der letzten Jahre insbesondere über die Zeit der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg um eine fundamentale sozialgeschichtliche Dimension zu erweitern: Es sei daher längst überfällig, so Christian Chevandier, Denis Peschanski und Jean-Louis Robert in ihrem Schlusswort, „se pencher sur le travail qui créée la richesse, qui justifie et perpétue ces institutions économiques, et sur les conditions de vie et d'activité des hommes et des femmes qui y _uvraient“(S. 506). Bereits 1992 kam es in Paris zu einer ersten Annäherung zweier bis dahin eher getrennt voneinander arbeitenden Forschungsstränge: Zeithistoriker, die sich mit verschiedensten Facetten der Rolle Frankreichs im Zweiten Weltkrieg beschäftigt hatten, diskutierten mit ausgewiesenen Spezialisten zur Geschichte der sozialen Bewegungen, insbesondere der Gewerkschaften. Dieses internationale Kolloquium markiert in seinen Fragestellungen, Forschungsmethoden und Ergebnissen einen Meilenstein zur französischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Epoche, wobei neben Überblicksanalysen auch mikroökonomische Perspektiven Berücksichtigung fanden. (1) Von dieser Aufbruchstimmung (an der sich auch der Rezensent mit einem eigenen Kolloquiumsbeitrag beteiligte) profitierten in den folgenden Jahren unzählige sektorielle und lokale Einzelstudien, die die konkreten Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen in den Betrieben wie auch die allgemeinen Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten im damaligen Frankreich insgesamt wesentlich erweiterten.

Nach 15 Jahren war es wiederum unumgänglich, eine Zwischenbilanz zu ziehen und aktuelle Forschungsperspektiven zu ermitteln. Die Erwartungen waren daher beträchtlich und die Resonanz unter den Spezialisten derart groß, dass die Tagung mit nicht weniger als 35 Einzelreferaten nur durch eine inhaltliche Aufteilung in zwei getrennten Sitzungen in Djon im Juni 2006 zu den innerfranzösischen Aspekten und in Besançon im Oktober 2006 zum Einfluss der NS-Besatzungsmacht stattfinden konnte. Das Kolloquium unterstreicht zugleich eine langjährige institutionelle Kontinuität: Wie schon 1992 waren auch hier die Universität Paris I (Centre d'histoire sociale du XXe siècle) und der CNRS (Groupement de recherche „Les entreprises françaises sous l'Occupation“ (2)) bei Konzeption und Organisation federführend beteiligt.

Um es vorwegzunehmen: Der monumentale Tagungsband, der bei Weitem nicht alle gehaltenen Vorträge versammelt (drei der insgesamt sieben nicht abgedruckten Vorträge sind immerhin als Audiomitschnitte ins Internet gestellt (3)), wird den hohen Erwartungen überwiegend gerecht. Einmal mehr zeigt sich das enorme Potenzial, das in der sozialgeschichtlichen Ergänzung der unternehmenshistorischen Perspektive liegt, zumal schon in der bereits im Titel dokumentierten erweiterten Begrifflichkeit („travailler“ statt „les ouvriers“) das gesamte soziale Spektrum des Produktionsfaktors Arbeit ohne seine Reduzierung auf eine einzelne Klasse in den Blick gerät. Ohne eine Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen oder der betrieblichen Sozialpolitik - um nur zwei Forschungsfelder zu benennen - bliebe die Analyse der Entwicklung der Arbeitsproduktivität wie auch der Produktion ebenso unvollständig wie beispielsweise die Untersuchung der sozialen, sektoriellen oder geographischen Mobilität der Beschäftigten ohne ihre Einordnung in die wirtschaftliche Doppelkonjunktur Vichys und der deutschen Okkupation.

Der Band gliedert sich in drei Forschungsschwerpunkte, um die die insgesamt 28 Beiträge einigermaßen ausgewogen gruppiert sind: Arbeitsmarkt und Mobilität der Mitarbeiter, Arbeitsbedingungen und Löhne, schließlich Korporatismus, betriebliche Sozialpolitik und Arbeitsbeziehungen. Leider ist nur ein Beitrag (Mark Spoerer) explizit komparativ angelegt durch einen diachronen Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich konsequente Vergleiche in transnationaler Perspektive fehlen hingegen. Das anerkennenswerte Bemühen, die französische Nabelschau zu sprengen, wird zwar durch zwei Beiträge, die sich speziell mit der Entwicklung in Belgien und im „Protektorat Böhmen und Mähren“ beschäftigen, durchaus ersichtlich, aber die komparative Fokussierung auf die Entwicklung in den anderen besetzten Ländern bleibt damit allzu sporadisch und wenig überzeugend. In einem insgesamt zu knapp geratenen einleitenden Forschungsüberblick reflektiert der Mitherausgeber Jean-Claude Daumas zwar ausführlich die Möglichkeiten einer sozialhistorischen Erweiterung der Geschichte der französischen Unternehmen während der Okkupation, ohne seine Reflexion allerdings konkret mit den abgedruckten Einzelbeiträgen zu verknüpfen - die ohnehin ja nur einen eher zufälligen als repräsentativen Ausschnitt aus der ganzen Bandbreite des Forschungsfeldes bieten. Der bilanzierende Schlussbeitrag von Mitherausgeber Christian Chevandier und den beiden Organisatoren des bahnbrechenden Kolloquiums von 1992, Denis Peschanski und Jean-Louis Robert, ist zwar ausgesprochen souverän und anregend geschrieben, fällt aber angesichts der ungemeinen Fülle des auf fast 500 Seiten ausgebreiteten Materials mit nur neun Seiten wiederum zu knapp aus. Immerhin weisen sie explizit auf viele einleitend gestellte Fragen hin, die auch nach der Lektüre der Tagungsakten offen bleiben und zugleich Perspektive und Ansporn für künftige Forschungen bilden. Durchaus selbstkritisch konstatieren sie die fehlende Interdisziplinarität des Bands und beklagen zu Recht das Fehlen von Beiträgen aus benachbarten Sozialwissenschaften und der Psychologie (zum Beispiel zum Phänomen der „Arbeitsbummelei“, das keineswegs nur auf die Besatzungszeit beschränkt ist).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass mit dem voluminösen Sammelband ein - wohl auch langfristig - unersetzlicher Forschungsüberblick vorliegt, dessen Handlichkeit sich durch die Hinzufügung eines Registers, Abkürzungsverzeichnisses und von Abstracts noch deutlich erhöht hätte. Angesichts der heute üblichen Kosten selbst von wesentlich schmaleren Tagungsbänden nimmt sich der Preis für die über 500 Seiten geballte Information zur französischen Arbeitswelt während der Okkupation geradezu als Schnäppchen aus, so dass sich eine Anschaffung allemal lohnt.

Arne Radtke-Delacor, Göttingen

Fußnoten:


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