ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gottfried Niedhart (Hrsg.), Gustav Mayer. Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914-1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 65), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2009, 494 S., geb., 69,80 €.

Gustav Mayer war, wie er am 21. März 1916 an Hermann Oncken schrieb, ein „leidenschaftlicher Zeitgenosse“ (S. 400). Diesem Eindruck vermag sich der Leser seiner Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe, die nun ediert vorliegen, nicht zu entziehen. In ihnen artikuliert sich ein hochsensibler, skeptischer Geist, ein wacher Beobachter und Kommentator der politischen Szene und ein, als deutscher Jude zwischen der Hoffnung auf gesellschaftliche Gleichberechtigung und dem deutlichen Gefühl des Ausgestoßenseins, des „ewigen einsamen Draußenstehens“ (S. 414) zerrissener Mann. Dass Gustav Mayer dem interessierten Publikum überhaupt ein Begriff ist, ist in erster Linie das Verdienst des Mannheimer Emeritus Gottfried Niedhart. Durch zahlreiche biografische Studien, nicht zuletzt durch die Neuauflage der Memoiren (1), hat Niedhart die Erinnerung an diesen „Grenzgänger zwischen Judentum und nichtjüdischer Gesellschaft, Bürgertum und Sozialdemokratie, westlich orientiertem Kosmopolitismus und nationalem Denken, Publizistik und Geschichtswissenschaft“ (S. 7) wachgehalten oder überhaupt erst geweckt. Niemand war daher berufener, mit der vorliegenden Edition eine Quelle zu erschließen, die für sich beanspruchen darf, tiefe Einblicke in die Gedankenwelt jenes sozial-liberalen Milieus in Weltkrieg und Revolution zu gestatten, dem Mayer als repräsentativer Außenseiter zugehörte.

1871 in Prenzlau geboren, wurde Gustav Mayer nach seinem Studium bei den ,Staatssozialisten' Adolf Wagner und Gustav Schmoller mit einer Arbeit über Ferdinand Lassalle promoviert. Sein Weg zum ,Historiker der deutschen Sozialdemokratie' war damit beschritten. Ohne sich jemals einer politischen Partei angeschlossen zu haben, nahm er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung an den Internationalen Sozialistenkongressen 1904, 1907 und 1910 teil und trat in persönliche Fühlung mit den großen Gestalten der deutschen und europäischen Sozialdemokratie. Mit seinem Eintreten für eine „Synthese von Klassenbewusstsein und Nationalgefühl“, für ein „Zusammengehen von reformbereitem Bürgertum und Sozialdemokratie“ (S. 21) war er ein „Mann des Ausgleichs und Brückenschlags“ (S. 73) und stand dem reformistischen Parteiflügel nahe. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde von Mayer durchaus nicht emphatisch begrüßt. Aber er setzte Hoffnungen in dessen integrative Kraft. Nicht nur sah er sein lange verfolgtes Ziel: eine national gewendete Sozialdemokratie als Teil einer sich durch sie öffnenden und demokratisierenden Gesellschaft, der Verwirklichung näher gerückt. Auch er persönlich, der unter seiner geteilten Identität als Deutscher und Jude litt, glaubte, nun endlich, ohne seine Herkunft und sich verleugnen zu müssen, ganz in der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufgehen zu können, „ganz im Gefühl eins mit ihr zu sein, von ihr anerkannt und beansprucht zu werden. Das wogt und wühlt in mir und lässt mich nicht frei“ (S. 338). Mayers Hoffnungen bei Kriegsausbruch wichen aber spätestens seit 1915/16 einer fortschreitenden Ernüchterung, ja Enttäuschung, die sich in seinen Tagebüchern und Briefen spiegelt und nachvollziehen lässt.

Relativ bald nach Kriegsbeginn stellte er sich dem Auswärtigen Amt zur Verfügung, da ihm die „Existenzform“ eines Privatgelehrten „in solcher Zeit [...] als eine recht drohnenhafte“ erschien (S. 324). Seit Januar 1915 war er in Brüssel zunächst in der Presseabteilung, später dann in der Politischen Abteilung der Zivilverwaltung tätig. 43-jährig und von labiler Konstitution, wollte er seine zwischen 1896 und 1906 als Auslandskorrespondent gesammelten Erfahrungen der deutschen Besatzungsarbeit nützlich machen. Die Verletzung der belgischen Neutralität bei Kriegsausbruch bedrückte ihn zwar moralisch, militärisch sah er sie jedoch als gerechtfertigt an, ebenso wie er an der Notwendigkeit nicht zweifelte, Belgien durch Handels- und Militärkonventionen auch nach Kriegsende dem englischen Einfluss dauerhaft zu entziehen. Im April 1915 wurde er mit der Bearbeitung der belgischen Akten zum Kriegsausbruch betraut - eine Aufgabe, die ihn reizte und um die, wie er schrieb, ihn jeder Historiker beneiden würde, die ihn aber ebenso auch die deutsche Kriegsschuld schärfer in den Blick nehmen ließ: Möge der Krieg auch unvermeidlich gewesen sein - zum Ausbruch hätte ihn die deutsche „Militärpartei“ gebracht, deren Einfluss es durch Stärkung des parlamentarischen Regimes politisch einzuhegen gelte.

Diesem Ziel dienten auch Mayers Beziehungen zur SPD. Nicht nur zu Vertretern des ,nationalen Parteiflügels' wie Wolfgang Heine und Eduard David hielt er Kontakt, auch zu den Führern der entstehenden USPD, vor allem zu Kautsky und Bernstein, brach er die Brücken nie ab. „Spezialist für sozialistische Fragen, aber selbst nicht Sozialist“ (S. 291) - in dieser bündigen Aktennotiz sind Mayers Funktion und seine Bedeutung für das Auswärtige Amt prägnant umrissen. Von manchen Genossen als „Riechorgan der Regierung“ beargwöhnt (2), sollte er seine Auftraggeber über die parteiinterne Entwicklung auf dem Laufenden halten und so als Schnittstelle zwischen SPD und Reichsleitung fungieren. Im Sommer 1917 hielt er sich während der Vorbereitungen der - letztlich gescheiterten - Sozialistenkonferenz in Stockholm auf, wo er Gespräche führte, Eindrücke sammelte, Gerüchte aufschnappte und das von tiefem gegenseitigen Misstrauen gekennzeichnete Klima zwischen den sozialistischen Parteien Europas in seinen Berichten festhielt. „Wie wohl sonst niemand verkehrte Mayer mit aller Welt“ (S. 29), mit Diplomaten und Revolutionären, Dichtern und Militärs, Aristokraten und Arbeiterführern. Die Spannbreite und Vielfältigkeit seiner Kontakte, manch treffende Charakteristik und Gesprächsnotiz verleihen den Texten einen besonderen, auch ästhetischen, Reiz. Hoch interessant sind etwa Mayers Beziehungen zur bolschewistischen Emigration, die er in Stockholm pflegte und der er „eine eigene kraftvolle Schönheit“ attestierte. Vor allem Radek, „die stärkste geistige Potenz“ unter seinen Gesprächspartnern, hatte es ihm angetan: „Hier herrscht noch der ungebrochene revolutionäre Glaube: der gleiche Ton wie hier muss in London im Hause von Karl Marx heimisch gewesen sein“ (S. 255).

Die Revolution faszinierte den Engels-Biografen. Der Mensch und Bürger fürchtete sie jedoch. Mayers Aufzeichnungen aus der Revolution 1918/19 spiegeln diese Angst: Während sich Mehrheits- und Unabhängige Sozialisten in der Regierung zerstritten, schaffe Spartakus mit Maschinengewehren revolutionäre Tatsachen und entfessele den Terror. Die Weihnachtskämpfe um das Berliner Stadtschloss, die Kapitulation der Regierungstruppen vor den Spartakisten, inspirierten Mayer zu apokalyptischen Visionen: „Es geht dem Abgrund zu! Der Schlund der Hölle hat sich aufgetan. Deutschland versinkt“ (S. 203). Karl Liebknecht, mit dem er vor 1914 in engem persönlichen Austausch gestanden hatte, ziele „in seinem monomanischen Ehrgeiz“ darauf ab, „der Lenin der deutschen Revolution zu werden“ (S. 186); und über Rosa Luxemburgs Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD, der er beiwohnte, heißt es knapp: „Haß, Fanatismus, kein Ton der Liebe“ (S. 207). Diese Aufzeichnungen sollten all jenen zu denken geben, die heute noch die reale Gefahr, die von den spartakistischen Revolutionären ausging, leugnen und als Popanz deuten, der der Remilitarisierung des Reichs diente. (3) Bei aller Furcht, Verzweiflung und Depression leitete Mayer jedoch auch die Hoffnung, „dass meine Zeit nun erst käme“ (S. 196). Sogar mit der Stellung eines „roten Historiographen“ liebäugelte er (S. 424). Dennoch erhielt er erst 1922 die lang ersehnte außerordentliche Professur für Geschichte der Demokratie und des Sozialismus an der Berliner Universität, die er bis 1933 innehatte. 1937 emigrierte er nach England, wo er 1948, enttäuscht und verbittert, starb.

Gustav Mayers Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe stehen unter dem Zeichen der Vergeblichkeit. Als liberaler Demokrat erhoffte er sich die Schaffung einer demokratischen Bürgergesellschaft und realisierte mit Schrecken, wie fest die Mauern der Klassengesellschaft auch im Kriege noch gefügt waren. Die zaghafte Demokratisierung im Zuge der Oktoberreformen erfolgte zu spät und vor allem nicht freiwillig, nicht aus innerer Einsicht und Überzeugung, sondern „unter den furchtbaren Hammerschlägen Fochs“ (S. 152). Die Revolution, der Bürgerkrieg, die Verhärtung und Verrohung der innenpolitischen Kämpfe - das war ihm die logische Folge jener kurzsichtigen Interessenpolitik der alten Herren- und Junkerkaste. Noch tragischer berühren indes jene Passagen, die sein Judentum umkreisen: „in dem neuen Deutschland, das aus dem Krieg entsteht“, so schrieb er im März 1915, wolle er „in Deutschland mit den Deutschen zu leben suchen“ (S. 351), als gleichberechtigter Bürger, als Jude und Patriot. In diesen Zeilen liegt die Tragik Gustav Mayers, die die Tragik des deutschen Judentums war. Gottfried Niedhart hat diese Tragik in seinem Einleitungstext einfühlsam umrissen und uns mit seiner sorgfältigen Edition einen hoffnungsgetriebenen, manchmal naiven und widersprüchlichen, aber immer ehrlichen Menschen nähergebracht, dessen Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe als eine der zentralen „Geschichtsquellen“ des 20. Jahrhunderts der historischen Zunft empfohlen sind.

Max Bloch, Bonn

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 24. März 2010