ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Warren Rosenblum, Beyond the Prison Gates. Punishment and Welfare in Germany, 1850-1933 (Studies in Legal History), The University of North Carolina Press, Chapel Hill 2008, XII + 326 S., geb., 49,95 $.

In Deutschland verbüßen verhältnismäßig sehr viel weniger Menschen Freiheitsstrafen als in den USA. Die vergleichsweise Milde der deutschen Strafrechtspflege der Gegenwart rührt aus der Geschichte der Fürsorge für deklassierte Randgruppen her. Das ist zumindest eine der Schlussfolgerungen, die der in St. Louis lehrende amerikanische Historiker Warren Rosenblum aus seiner Studie zum wechselvollen Verhältnis von Strafen und Fürsorge in Deutschland zwischen 1850 und 1933 zieht. Konzentrierte sich die zuletzt rege Forschung auf die Diskussionen von Kriminologen und Strafrechtslehrern, so geht Rosenblum einen überfälligen Schritt weiter, indem er weniger prominente Reformgruppen und -initiativen wie Strafentlassenenfürsorge und Gerichtshilfe in den Blick nimmt. Deren Schrifttum, ministerielle Aktenbestände und Presseberichte bilden seine Quellengrundlage.

Ohne näher auf die Gefängniskunde einzugehen, beginnt Rosenblum mit dem Hinweis, dass Maßnahmen wie korrektionelle Nachhaft oder Polizeiaufsicht von liberalen Rechtsgelehrten als wichtige Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaates angesehen wurden. Die eigentlichen Kritiker solcher Ausschließungspraktiken waren ihm zufolge christlich-konservative Sozialreformer wie Johann Hinrich Wichern und Friedrich von Bodelschwingh und private Organisationen wie Gefängnis- und Fürsorgevereine. Diese Reformer hätten zwar Vergeltung und Abschreckung das Wort geredet und in ihren eigenen Einrichtungen Wert auf Disziplin und Autorität gelegt, aber in ihrer Kritik an der polizeilichen Verfolgung der Vagabunden, an den Arbeitshäusern und der Polizeiaufsicht auch die staatliche Autorität herausgefordert. Dagegen hätten Liberale einen fürsorgerischen Ansatz des Strafrechts abgelehnt und im Extrem die Idee des Besserungsstrafvollzugs ganz verworfen.

Rosenblum zeigt, dass die Strafrechtsreformbewegung des Fin de Siècle aller modernistischen Selbstdarstellung zum Trotz wesentliche Reformprojekte und Erklärungsansätze mit den christlichen Reformern teilte. Er geht dabei besonders auf die Debatte um die Deportation von Straftätern ein. In dem Vorhaben, Deportierte nicht nur zur Arbeit anzuhalten, sondern auch in den Kolonien anzusiedeln, sei sowohl an Analysen der „modernen Schule“ als auch an Ziele der christlichen Entlassenenfürsorge angeschlossen worden. Über die Frage ihrer praktischen Realisierbarkeit hinaus habe die Deportationsutopie bis in die Weimarer Republik hinein Reformprojekte inspiriert.

Nicht nur hier stellt Rosenblum die verbreitete Annahme in Frage, dass kriminalpolitische Reformbestrebungen vorwiegend durch eine Furcht vor degenerierten, erblich belasteten Gewohnheitsverbrechern begründet waren. Die Figur des „Asozialen“, so unterstreicht er, entstand ursprünglich in der Praxis der Fürsorge. Damit wurde vor allem die Gruppe derjenigen bezeichnet, die als „große Kinder“ besonderer Fürsorge und Schutz bedurften. Rosenblum exemplifiziert dies am Beispiel der seltsamen Karriere des „Hauptmanns von Köpenick“, Wilhelm Voigt, an dessen Schicksal sich die Kritik an der Polizeiaufsicht festgemacht habe.

Im zweiten Teil seines Buchs wendet sich Rosenblum konkreten Reformen zu. Der Richter Alfred Bozi hatte 1915 in Bielefeld angeregt, wegen Landstreicherei, Bettelei oder Prostitution Verurteilten zu ermöglichen, sich gegen Strafaufschub in eine Arbeiterkolonie zu begeben. Rosenblum stellt diese Initiative in den Kontext des Ersten Weltkriegs, als die Reformer Frauen und Jugendliche an der ,Heimatfront' besonderen moralischen Gefahren ausgesetzt sahen und ihre Aufmerksamkeit auf die sozialen Dimensionen der Kriminalität gelenkt wurde. Er sieht darin eine gesellschaftliche Reaktion, die wissenschaftliche Orientierung mit protestantischen Modellen der Aufsicht verknüpfte, um Autorität vom Staat in die Gesellschaft zu transferieren.

Aus der Bielefelder Initiative entwickelte sich bald nach Kriegsende die „Soziale Gerichtshilfe“. Bozi gründete damit eine unabhängige Einrichtung, die Ermittlungen über den sozialen Hintergrund eines Angeklagten anstellte. Die Gerichtshilfe fand rasch Verbreitung, weil sie der in eine Vertrauenskrise geratenen Justiz zu helfen schien, sowohl nach wissenschaftlichen als auch nach sozialen Kriterien zu urteilen. Gleichzeitig stritten aber Vertreter der Fürsorge und der Justiz erbittert darüber, wie weit die Fürsorge gehen durfte. Anhand einiger seinerzeit großes Aufsehen erregender Beispiele illustriert Rosenblum eindrücklich die Fragmentierung und Polarisierung der kriminalpolitischen Reformbewegung der Weimarer Republik. In der massiven Kritik an der angeblichen Verweichlichung der Justiz und in der ökonomischen Ausnahmesituation der Weltwirtschaftskrise sieht er die Gründe, warum viele Reformer begannen, ihre Arbeit kriminalbiologisch zu fundieren. Die Kriminalbiologie habe die humanistischen und integrativen Ideale der Gefängnisreformbewegung legitimiert, weil sie die verschiedenen Faktoren der Kriminalität aufzudecken versprach und zugleich eine Möglichkeit zu eröffnen schien, die knapper gewordenen Mittel nur den auch wirklich Bedürftigen und Würdigen zukommen zu lassen.

Warren Rosenblum belegt, dass soziopolitische Ansätze zur Verbrechensbekämpfung in Deutschland breite Unterstützung fanden. Das Vertrauen in das Vermögen der Gesellschaft, Straffällige zu resozialisieren, sei stets vergleichsweise stark geblieben, nicht nur trotz, sondern auch wegen gesellschaftlicher Mobilisierung und starker Ideologien der Solidarität in Zeiten des Kriegs und des Nationalsozialismus. Doch er argumentiert unausgewogen. Die frühe Kriminalsoziologie und die Kriminalpsychologie stellten die Straffälligenfürsorge bereits im 19. Jahrhundert vor gewichtige Legitimationsprobleme. Dystopien spielten dabei eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie Utopien, um Reformvorhaben zu legitimieren. Über die Auseinandersetzung mit sozialem und biologischem Determinismus, über die antimodernen Sittlichkeitsvorstellungen und den Paternalismus der christlichen Fürsorge, über das schwierige Verhältnis von privater Fürsorge und staatlicher Sozialpolitik, über die Adaption kriminalpsychologischer Sammelbegriffe wie „geistige Minderwertigkeit“ für die fürsorgerische Praxis, über die Diskussion um Bewahrungsgesetz und Sicherungsverwahrung in der Weimarer Republik - darüber erfährt man bei Rosenblum jedoch wenig. Die deutschen Reformdebatten gibt er mitunter nur unvollständig wieder. So stimmt etwa seine Behauptung nicht, in keinem der wesentlichen Deportationspläne während des Wilhelminismus sei es darum gegangen, erblich belastetes Material aus der nationalen Gemeinschaft zu entsorgen (S. 83). Hans Gross, einer der führenden Kriminologen seiner Zeit, forderte 1905 genau das. (1)

Dabei hätte Rosenblums Interpretation von einer Auseinandersetzung mit diesen Aspekten profitiert. Denn anders als er bisweilen suggeriert, hat die jüngste Forschung den Prozesscharakter der Verwissenschaftlichung der Kriminalpolitik herausgearbeitet und aufgezeigt, wie sehr sowohl Alltags- und Erfahrungswissen als auch religiös-moralische Kriminalitätsvorstellungen darin eingegangen und konserviert worden sind. Zu dieser notwendigen Dezentrierung des Wissenschaftsdiskurses im Bereich der Strafrechtspflege leistet letztlich auch Rosenblum einen wichtigen Beitrag.

Andreas Fleiter, Bochum

Fußnoten:


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