ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dittmar Dahlmann, Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn/München etc. 2009, 435 S., geb., 39,90 €.

Sibirien gehört, wie es Karl Schlögel einmal formuliert hat, ein beständiger, aber keineswegs eindeutiger Platz in der deutschen Seelenlandschaft. Seit über 100 Jahren ist die einzigartige, vorgeblich unberührte Geografie Sibiriens ein Sehnsuchtsort für Bahnreisende, noch länger gilt der Subkontinent als Schreckensort: als größtes und kältestes Gefängnis der Welt. Bundesdeutsche Pauschalreisende und Trivialschriftsteller, wilhelminische Sozialdemokraten oder Naturforscher wie Alexander von Humboldt haben einflussreich solche Vorstellungen geprägt. Der Anteil der Geschichtswissenschaft an diesem Bild ist dagegen erstaunlich gering, obwohl für sie Sibirien durchaus ein in zahlreichen Detailstudien erforschtes Schlüsselthema der neueren russischen Geschichte darstellt und bereits im 18. Jahrhundert ein Historiker aus Herford, Gerhard Friedrich Müller, die erste Geschichte Sibiriens vorgelegt hat. Dittmar Dahlmann, der in Bonn osteuropäische Geschichte lehrt, fasst mit seiner Überblicksdarstellung eine Fülle auch eigener Vorarbeiten zusammen. Er richtet sich ausdrücklich nicht nur an das Fachpublikum und möchte überkommene Vorstellungen von Sibirien in eine historische Dimension stellen, differenzieren und korrigieren. Dahlmann fragt zwar nicht, wie die Sibirienbilder in die Welt kamen und was spezifisch deutsch daran ist - aber er gibt einen souveränen Überblick über die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes unter russischer Herrschaft. Der Informationsgehalt ist gewaltig und verlangt selbst von bildungsbeflissenen Lesern einiges an Aufnahmefähigkeit, doch dafür erhalten sie mehr als einen Maßstab zur mentalen Neuvermessung Sibiriens.

Das Buch schlägt einen Bogen von der Eroberung Sibiriens seit dem späten 16. Jahrhundert bis zur stalinistischen Entwicklungspolitik und ihren Folgen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In die Chronologie eingefügt sind stärker systematisch argumentierende Kapitel, etwa über die Kartografierung, Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung Sibiriens sowie über die ökologischen Probleme, die aus der Ausbeutung der begehrten sibirischen Rohstoffe schon durch die ersten russischen Eroberer entstanden sind. Kenntnisreich schildert Dahlmann die zeitlichen und geografischen Abschnitte in der Eroberung Sibiriens, einschließlich der noch immer wenig bekannten Expansion des Zarenreichs im Nordpazifik und auf dem nordamerikanischen Kontinent. Behandelt werden die ethnografische Vielfalt zwischen Ural und Alaska ebenso wie die ,klassischen' Themen Verbannung, transsibirische Eisenbahn und Sibirien als Bürgerkriegsschauplatz. Die Perspektive der Darstellung bleibt dabei meist „traditionell“ vom Zentrum auf die Peripherie gerichtet, die Entstehung eines sibirischen Sonderbewusstseins ist nur am Rand erwähnt ebenso wie der Anteil Sibiriens an der Selbst- und Fremdwahrnehmung Russlands.

Dahlmann ist allerdings weit davon entfernt, die Rolle des Moskauer beziehungsweise Petersburger Zentrums zu verklären oder auch nur zu rechtfertigen. Er findet so nüchterne wie klare Worte, um die gern „Erschließung“ oder „Kolonisierung“ genannte Eingliederung Sibiriens in das Zarenreich als einen Prozess der blutigen und rücksichtslosen Unterwerfung zu schildern und ebenso die Ausbeutung insbesondere des Pelztierreichtums auf Kosten der indigenen Bevölkerung. Der Widerstand gegen die Russen, die als Jäger, Besatzungsmacht oder Forscher mit Gewalt vordrangen, war nirgendwo sonst im Zarenreich so erbittert und aussichtslos zugleich. Immer wieder und mit guten Gründen zieht Dahlmann einen Vergleich mit dem Vordringen der Europäer in Amerika, die mit ihren überlegenen Waffen, ihrer Gier und ihren Krankheiten die Bewohner der eroberten Gebiete dezimierten und die Überlebenden in krasse Abhängigkeitsverhältnisse zwangen. In Sibirien lebten schon am Ende des 17. Jahrhunderts mehr Eroberer als Eroberte, so dass das Land im Zeitalter des Nationalismus leicht zu einem russischen Teil des zarischen Vielvölkerreichs erklärt werden konnte.

In der frühen Neuzeit standen ökonomische Motive im Vordergrund. Unternehmerfamilien wie die Stroganovs, angeheuerte oder auf eigene Rechnung handelnde Kosaken und Pelztierjäger stellten die treibende Kraft dar; der Zarenstaat und die Kirche folgten ihnen bis zum Pazifik und darüber hinaus. Die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten protestierten zwar gegen das brutale Vorgehen der Kosaken, besaßen aber vor Ort zu wenig Macht und zu viele Eigeninteressen, um wirksam dagegen einzuschreiten. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass Dahlmann den amerikanischen Begriff der Frontier ablehnt, weil dieser lediglich das Ausgreifen der USA nach Westen und die Verdrängung der indianischen Bevölkerung verklärt und zu einer nationalen Tugend erhoben habe. Doch zum einen bietet sich gerade der in dieser Verklärung enthaltene Anspruch auf eine Zivilisierungsmission zum Vergleich an; zum anderen lässt sich die Frontier durchaus als analytisches Konzept für die Untersuchung fluktuierender imperialer Grenzräume mit unklaren Machtverhältnissen nutzen. Einen Teil des Frontier-Mythos machte außerdem der Nimbus eines freien, von der Obrigkeit kaum kontrollierbaren Landes aus, der in Sibirien für die russischen Eroberer und teilweise später auch für die russischen Siedler eine gewisse Berechtigung besaß.

Im Unterschied zu anderen Territorien des zarischen Vielvölkerreichs wurden in Sibirien wenige Kompromisse mit den Unterworfenen gemacht; eine Kooperation mit deren Führern fand kaum statt. Zu Recht galt Sibirien daher im 19. Jahrhundert als eine russische Kolonie, und weitsichtige Beamte sorgten sich darüber, dass Russland als Folge früherer Rücksichtslosigkeit eine Phase der Dekolonisierung wie in Amerika drohe. Doch die auch infolge solcher Überlegungen eingeleiteten Verwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts verliefen an der Oberfläche; Misswirtschaft, Korruption, und die Eigenmacht der Gouverneure waren in Sibirien weiterhin stärker ausgeprägt als im europäischen Teil Russlands. Inwiefern sich diese Verhältnisse im 20. Jahrhundert änderten, bleibt unklar. Überhaupt widmet Dahlmann der Sowjetzeit sowie der Nachsowjetzeit deutlich weniger Aufmerksamkeit als dem Zarenreich, mit der Ausnahme eines längeren Kapitels über die Umweltzerstörung. Die Stalinsche Kollektivierung, Industrialisierung und das Lagersystem werden in kurzen Teilkapiteln gemeinsam und auf weniger Seiten abgehandelt als die wissenschaftlichen Expeditionen des 18. Jahrhunderts. Diese Gewichtung hängt fraglos damit zusammen, dass die Wissenschaftsgeschichte Sibiriens kaum, der Stalinismus dagegen intensiv erforscht ist. Dennoch überrascht die verkürzte Perspektive auf das 20. Jahrhundert in einer Überblicksdarstellung, die „bis zur Gegenwart“ reicht.

Trotz der Kritik an Details bleibt festzuhalten: Das Warten auf diese Geschichte Sibiriens hat sich gelohnt. Sie wird in der universitären Lehre ebenso willkommen sein wie als anspruchsvoller Zeitvertreib in einem Coupé der Transsibirischen Eisenbahn.

Andreas Renner, Köln


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