ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Berthold Vogel, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburger Edition, Hamburg 2009, 348 S., geb., 25,00 €.

Das Schicksal der Mitte der Gesellschaft, das heißt der „nicht ganz Armen und nicht ganz Reichen“, ist in letzter Zeit mehr und mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. In den vergangenen zwei Jahren widmeten sich verschiedene Studien der Lage und Zukunft der Mittelschichten in Deutschland. (1) Besonderes Aufsehen erregte im Frühjahr 2008 eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, der zufolge der Anteil der Bezieher mittlerer Einkommen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 54 Prozent im Jahre 2006 zurückgegangen sei. (2) Gleichzeitig machten die Untersuchungen des DIW darauf aufmerksam, dass in der Mittelschicht der Anteil der Personen, die sich um ihre eigene wirtschaftliche Situation „große Sorgen“ machen, erheblich gestiegen sei.

Wie berechtigt ist die Abstiegsangst in der Mitte der Gesellschaft? Sind kollektiver Aufstieg und materielle Sekurität Merkmale eines vergangenen Zeitalters? Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Veränderungen der Sozialstruktur und der Transformation des Wohlfahrtsstaats? Diesen Fragen widmet sich Berthold Vogel in seinem neuen Buch „Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen“. Der Hamburger Sozialforscher hat sich bereits in den vergangenen Jahren durch Forschungen zum Wohlfahrtsstaat und zur sozialen Ungleichheit einen Namen gemacht. Erst 2008 war von ihm „Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ erschienen. Die „Wohlstandskonflikte“ stellen eine Weiterentwicklung des Themas dar, indem der Autor nun gezielt die Auswirkungen staatlichen Handelns auf die Mitte der Gesellschaft untersucht.

Vogel beginnt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass die bekannte Welt des sozialen Aufstiegs, der beruflichen Sicherheit und des wirtschaftlichen Wohlstands am Anfang des 21. Jahrhunderts unter wachsenden Spannungen stehe (S. 10). Diese Spannungen träten insbesondere in der Mitte der Gesellschaft auf. Alles deute darauf hin, dass nach Jahrzehnten der Sicherheit und Stabilität gerade diejenigen Abstiege und Statusverluste fürchten müssten, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen und etabliert seien. Dass dies vor allem mit der institutionellen Fortentwicklung moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit zusammenhängt, ist eine zentrale These des Autors, dem es überzeugend gelingt, die beiden Themen „Mittelklasse“ und „Wohlfahrtsstaatlichkeit“ zusammenzubinden. Vogels Analyse zielt unter anderem darauf zu zeigen, dass die Etablierung einer breiten Mittelschicht das „strukturelle Resultat wohlfahrtsstaatlicher Aufstiegsmobilität und Aufstiegsmobilisierung“ ist (S. 13). Die veränderte Architektur des Wohlfahrtsstaats muss folglich, so die Argumentation, auch die gesellschaftliche Mitte verändern.

Der Aufbau des in fünf Kapitel gegliederten Buchs ist überzeugend und macht es dem Leser leicht, der Argumentation zu folgen Zunächst wird auf die Orte der Gesellschaft verwiesen, an denen sich die Frage nach Wohlstand, das heißt nach dessen möglichem Verlust oder dessen verhinderter Erreichbarkeit, überhaupt stellt: Kapitel I behandelt die Mittelklasse zwischen „Wohlstandspanik und Statusbeflissenheit“. Dabei trifft der Autor auf das wohlbekannte Problem, wie der Mitte, diesem „ebenso bunten wie unübersichtlichen Wimmelbild“, überhaupt diagnostisch und analytisch beizukommen ist (S. 21). Über wen sprechen wir, wenn wir über die „soziale Mitte“ sprechen? Der Autor verzichtet auf festgelegte Definitionen und nähert sich der Welt der Mittelklasse auf drei Wegen an: über die Erfahrungen der Sozialreportage, über die soziologische Strukturanalyse und über die Ungleichheitsforschung. Nacheinander stehen die „gefährdete“, die „gesuchte“ und die „gedachte Mitte“ zur Diskussion. Der Begriff der Mittelklasse wird dabei zu einem Relations- sowie Mobilitäts- und Prozessbegriff, der sich einer Momentaufnahme der Gesellschaft entzieht und immer in Beziehung zum „Oben“ und „Unten“ gesetzt werden muss. Als „soziale und berufliche Kerngruppe der Mittelklasse“ (S. 26) werden die öffentlichen Dienste benannt, die auch in den folgenden Kapiteln immer wieder im Blickpunkt stehen.

Für Historiker besonders interessant sind das zweite und dritte Kapitel über die formative Kraft („Wohlfahrtspolitik und Gesellschaftsgestaltung“) und die sozialstrukturellen Effekte des Wohlfahrtsstaats („Wohlfahrtsstaat und Klassenbildung“). Der Autor beschränkt sich hier nicht auf eine Gegenwartsanalyse, sondern diskutiert das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Gesellschaftsgestaltung in einem diachronen Zusammenhang. Im Mittelpunkt stehen die Expansion staatlich organisierter Wohlfahrt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Konsequenzen dieses historisch wohl einmaligen Vorgangs auf das Strukturgefüge, die Entwicklungsdynamik und die kollektiven Mentalitäten der Gesellschaft. Von zentraler Bedeutung ist die Feststellung, dass der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen nicht nur ein neues soziales Sicherungs- und Schutzsystem etablierte, sondern dass mit der Entwicklung der Wohlfahrtsstaatlichkeit zugleich auch „der Startschuss“ für eine mobil-aufstiegsorientierte Gesellschaftsordnung“ erfolgte (S. 50). In überzeugender Weise wird dargelegt, dass die „Mittelklasse“ in ihrer heutigen Form und Ausprägung ein Produkt des auf Dienst und Sorge zielenden Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit sei.

Im Zentrum des dritten Kapitels und der Frage nach den Prozessen von Klassenbildung im Wohlfahrtsstaat steht die Entwicklung des öffentlichen Diensts und der Strukturen der Wohlfahrtspflege. Durch seine vorbildlich dokumentierte Darlegung beweist der Autor die zentrale Bedeutung der Expansion der öffentlichen Verwaltung für das soziale Strukturgefüge in der Bundesrepublik. Die in den 1960er und 1970er Jahren angebotenen sicheren und qualifizierten Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst haben, so wird gezeigt, vor allem auch Berufsanfängern und Frauen Möglichkeiten zum beruflichen und sozialen Aufstieg gegeben. Hingewiesen wird aber auch auf die selektiven und damit klassenbildenden Effekte der Ausdehnung der öffentlichen Beschäftigung. So hat sich mit der Gleichzeitigkeit von Bildungs- und Staatsexpansion die Bindung zwischen dem System höherer Bildung und den leitenden Positionen im öffentlichen Dienst verfestigt. Interessant ist auch die Parallele, die Vogel zur Entwicklung in der Privatwirtschaft zieht. Zwar habe die strukturelle Höherqualifikation der Staatsbeschäftigung in vergleichbaren Umfang in der Privatwirtschaft nicht stattgefunden. Dennoch sei zu vermuten, dass die starke Aufstiegsdynamik im öffentlichen Dienst auch auf den industriellen Sektor ausgestrahlt habe (S. 157).

Der stark ins Sozialhistorische weisenden Analyse von dem, was war, folgt im vierten Kapitel die Analyse dessen, was ist und sein wird. Die beschriebenen Aufstiegs- und Expansionsprozesse, so der eindeutige Befund, sind spätestens seit den 1990er Jahren ins Stocken geraten. Dies habe vor allem mit erwerbswirtschaftlichen Veränderungen zu tun. Die Neujustierung des Wohlfahrtsstaats - als Folge des substanziellen Wandels der Erwerbsarbeit - ziehe den Verlust kollektiver Aufstiegsversprechen nach sich. Der Wohlfahrtsstaat als politisches Arrangement und rechtliches Ordnungsgerüst zerfalle zwar nicht, wohl aber trete die wohlfahrtsstaatliche Formierung der Gesellschaft in eine neue Phase ein. Mit Hilfe der Begriffe der „sozialen Verwundbarkeit“ und des „prekären Wohlstands“ bringt der Autor die konfliktreichen und spannungsvollen gesellschaftlichen Veränderungen auf den Punkt, die insbesondere die Lagen und Milieus treffen, die von der langen Welle des expansiven Wohlfahrtsstaats besonders profitiert haben, mit anderen Worten: die Mitte der Gesellschaft.

Vogel sieht vor allem „zwei zentrale Mittelklassemilieus als (ehemalige) Aufsteigergruppen“ unter Druck und in Anspannung: die gewerkschaftlich organisierte industrielle Facharbeiterschaft und die öffentlichen Dienste. Für beide Milieus gelte, dass „mit der tendenziellen Auflösung der engen Verbindung von sorgender, intervenierender Staatlichkeit und korporativ organisierter Arbeitswelt die Geschäftsgrundlagen ihres sozialen Erfolgs zumindest brüchig werden, wenn nicht sogar verschwinden.“ (S. 210). Anhand verschiedener und sehr anschaulicher Beispiele werden die Formverluste industrieller Arbeit und öffentlicher Beschäftigung diskutiert und gezeigt, wie weit prekäre Arbeitsverhältnisse und fragmentarische Beschäftigungsformen heute in einst stabile Arbeits- und Beschäftigungswelten eingedrungen sind.

Im fünften und letzten Kapitel kehrt Berthold Vogel zu seinen Ausgangsüberlegungen zurück: Die sozialen Fragen heute seien im Kern der Ausdruck von Wohlstandskonflikten, die nicht von den Rändern, sondern aus einer verunsicherten und statusbesorgten Mitte heraus in die Gesellschaft hinein getragen würden. Die zeitdiagnostische und gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Soziologie müsse hierauf Antworten finden, so die zentrale Forderung. Es gelte, eine empirische Soziologie des arbeitenden Staates in Gang zu bringen, die die Partikularitäten sozialer Interessen und Konflikte ebenso im Blick behalte, wie die Universalität des rechtsstaatlich geordneten Zusammenlebens.

Mit den „Wohlstandskonflikten“ hat der Soziologe Vogel eine Studie vorgelegt, die Historikern und Sozialwissenschaftlern gleichermaßen zur Lektüre zu empfehlen ist. Seine Analysen beruhen auf einer großen Bandbreite von Untersuchungen der empirischen Sozialforschung. Vogel erweist sich darüber hinaus als Kenner der Sozialstrukturanalyse von ihren Anfängen bis heute. Ein besonderes Verdienst der Studie liegt darin, dass auch Analysen und Forschungsergebnisse aus dem englisch- und französischsprachigen Raum einbezogen worden sind. Dadurch gelingt es Vogel, eine Vergleichbarkeit mit den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, wie Frankreich, herzustellen.

Angesichts der Fülle an neuen Erkenntnissen fallen kleinere strukturelle Mängel kaum ins Gewicht. Dennoch hätte man sich zu Anfang noch eine klarere Formulierung der Thesen gewünscht sowie insgesamt eine stärkere Strukturierung und Bündelung der Ausführungen und Untersuchungen zum öffentlichen Dienst. Berthold Vogels interessante und vielseitige Studie regt zu weiteren Forschungen über den Wohlfahrtsstaat und die Mittelklasse an. Besonders in der sozialhistorischen Forschung ist der Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat und sozialstrukturellem Wandel bisher kaum systematisch untersucht worden. Dabei ist neben den wohlfahrtsstaatlichen Beschäftigungseffekten auch noch genauer zu untersuchen, inwieweit die Mittelklasse Nutznießer und Hauptprofiteur wohlfahrtsstaatlicher Leistungen war.

Dagmar Hilpert, Berlin

Fußnoten:


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