ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Moritz Csáky/Monika Sommer (Hrsg.), Kulturerbe als soziokulturelle Praxis (Gedächtnis - Erinnerung - Identität, Bd. 6), StudienVerlag, Innsbruck/Wien 2005, 188 S., brosch., 24,90 €.

Der hier besprochene Band vereint zwölf Beiträge von Soziologen, Geschichtswissenschaftlern und Kunsthistorikern sowie Architektur-, Museums-, Theater- und Musikexperten, die auf dem 5. Internationalen Kongress des Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“ debattiert wurden. Diese multidisziplinäre Breite bildet einerseits die unterschiedlichen Erscheinungsformen des „kulturellen Erbes“ ab. Andererseits werden auf diesem Wege theorieorientierte Ansätze mit Beiträgen zu den Herausforderungen der Praxis vereint. Im Folgenden sollen vor allem diejenigen Positionen vorgestellt werden, die eine kritische Diskussion des Konstrukts „Kulturerbe“ ermöglichen oder grundlegende Probleme der mit ihm verbundenen Praxis erörtern.

Einleitend skizzieren die Herausgeber Moritz Csáky und Monika Sommer die Herausbildung der Kategorie „kulturelles Erbe“, die sie letztlich auf die Neubewertung kultureller Artefakte seit dem Ende der Französischen Revolution zurückführen. Die Gründung der UNESCO 1946 sowie die Entstehung des Welterbeprogramms 1972 hätten maßgeblich zur Erweiterung des Erbe-Begriffs beigetragen, der zunehmend Naturstätten und neuerdings auch immaterielle Zeugnisse einschließt. Ferner betonen Csáky und Sommer die Bedeutung neuer Kommunikationstechnologien, die vormals vernachlässigte kulturelle Praktiken und Traditionen sichtbar gemacht haben. Mit seiner Institutionalisierung durch die UNESCO ist „Kulturerbe“ auf lokalem, nationalem sowie auf internationalem Terrain zu einem allgegenwärtigen Schlagwort kulturpolitischen Handelns geworden. Seine Popularität verdeckt allerdings leicht die Widersprüchlichkeit des Begriffs. Einerseits suggeriert er eine per se vorhandene Authentizität und Unveränderbarkeit. Andererseits basiert die Etikettierung eines Artefakts oder einer Praxis als „Kulturerbe“ immer auf sozialen Aushandlungsprozessen und sich wandelnden Vorstellungen von kulturellen Werten. Zu Recht rücken die Herausgeber daher die Frage nach der Selektivität des Kulturerbe-Verständnisses, nach der Veränderlichkeit der Definitionskriterien und nach den dahinter stehenden Interessen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es geht ihnen um die vielfältigen Verflechtungen zwischen Deutungs- und Handlungsmechanismen, die bei der Aushandlung des „Kulturerbes“ auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zum Tragen kommen.

Im ersten Teil des Bands - „Positionen“ - führen Friedrich Achleitner und Wilfried Lipp Klage über die Ökonomisierung des Weltkulturerbes, welche stets nach Verwertbarkeit und materiellem Nutzen fragt und der Kultur ihren Eigenwert als System ideeller und symbolischer Werte aberkennt. Diese Kommerzialisierung der Kultur habe zur Folge, dass sich das ursprüngliche Ziel der UNESCO-Konvention, nämlich der gemeinsame Schutz des menschlichen Erbes, nicht mit der Praxis decke. Ökonomische Interessen drohten das ursprüngliche Bewahrungsziel zu überlagern und könnten die Erbestätten sogar langfristig gefährden - zum Beispiel durch die touristische Übernutzung. Dass diese Position zu einseitig zuspitzt, zeigt der Aufsatz von Jacek Purchla zum „Kulturerbe“ in Polen, der überzeugend darlegt, dass eine erfolgreiche Bewahrung des „Kulturerbes“ mitunter erst auf seiner Nutzbarmachung durch den Tourismus fußt.

Der Abschnitt „Medien“ widmet sich verschiedenen Formen des materiellen und immateriellen „Kulturerbes“. Im Zentrum steht stets der Wandel der Vorstellungen darüber, was als „kulturell wertvoll“ definiert wird. So beklagt etwa Elisabeth Großegger, dass das Theater seit geraumer Zeit als unfinanzierbarer Luxus gilt. Hierbei werde der kulturelle Nutzen des Theaters unterschätzt, der in der ständigen Neuinterpretation und -inszenierung und damit in der Weiterentwicklung von Traditionen liege. Eine Anerkennung als immaterielles Welterbe könne der Theaterlandschaft helfen, jenseits ökonomischer Nützlichkeitserwägungen zu einem unberührbaren „Verwalter der Tradition“ zu werden. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass Großeggers Anliegen nicht auf eine Art Musealisierung des Theaters abzielt. Es geht ihr um die Bewahrung einer lebendigen, sich stetig weiterentwickelnden Tradition und der Auszeichnung ihres innovativen Charakters. Eva Tropper untersucht in ihrem Aufsatz zur Historisierung der Grazer Ansichtskartenmotivik, wie sehr Ansichtskarten als selektives und interessengesteuertes Medium wirken, das zur Imagination eines Orts und nicht zu dessen Dokumentation dient. Am Beispiel der Stadt Graz, deren Altstadt 1999 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wurde, demonstriert Tropper den Wandel dessen, was als „kulturell bedeutsam“ kanonisiert ist. So zeichnet sich seit der Erhebung zum Weltkulturerbe eine Verengung der Darstellung auf den Grazer Altstadtkern ab. Die Ansichtskarte hat einen Bedeutungswandel vom Träger lokaler Identität hin zum primär touristischen Medium erfahren.

Im abschließenden Teil des Bands werden unter dem Titel „Schauplätze“ Problemfelder des „kulturellen Erbes“ vorgestellt. Neben dem bereits erwähnten Beitrag von Jacek Purchla zum Spannungsfeld zwischen „Kulturerbe“ und Ökonomie in Polen ist hier besonders der Aufsatz von Anil Bhatti hervorzuheben. Er beschreibt anhand indischer Gedächtnisorte, die in der Vergangenheit zum Schauplatz religiöser Auseinandersetzungen geworden sind, die konfliktträchtige soziale und politische Bedingtheit des „kulturellen Erbes“. Die Vorstellung davon, was als „Kulturerbe“ anzusehen sei, spiegele stets auch gegenwärtige ethnische und politische Machtverhältnisse wider. In Indien werde die Pflege des nationalen postkolonialen Erbes durch das Bestreben überschattet, einer bestimmten historischen Ursprungserzählung Authentizität zuzusprechen. Durch diese Homogenisierungstendenzen werden die kulturellen Spuren von Minderheiten eliminiert und die Komplexität der indischen Kultur negiert. Auseinandersetzungen um Erinnerungsorte und deren Zerstörung waren unlängst die Folge. Das Beispiel der indischen Gedächtnisorte verdeutlicht die Gefahren, die sich hinter einseitigen Bedeutungszuweisungen verbergen. Um dem entgegenzuwirken, plädiert Bhatti dafür, die prinzipielle Mehrdeutigkeit des „Kulturerbes“ als gedächtnispolitischen Grundsatz anzuerkennen.

Die Beiträge des Bands wollen die Diskussion über die Kategorie des „Kulturerbes“ über die Grenzen der einzelnen Wissenschaften hinaus stimulieren. Zu diesem Zweck wäre allerdings ein zusammenfassendes Nachwort zu begrüßen gewesen, das kontroverse Positionen der Autoren aufgreift und gegenüberstellt. So wehrt sich beispielsweise Achleitner gegen die Integration des Intangiblen in den Erbe-Begriff, während Rosemarie Beier-de Haan es in ihrem Beitrag als unverzichtbaren Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses bewertet. Ferner hätten die verschiedenen Bedeutungsebenen des „kulturellen Erbes“ präziser herausgearbeitet werden müssen, um Ungenauigkeiten zu vermeiden. So setzt Wilfried Lipp die Funktion des nationalen Erbes mit der des Welterbes der UNESCO gleich, wenn er vom „Identitätskonzept Welt-Kultur-Erbe“ spricht. Während jedoch der Begriff des „Kulturerbes“ oft unspezifisch verwendet wird, ist der Terminus „Weltkulturerbe“ stets mit dem Welterbeprogramm der UNESCO verbunden, das festen Verfahren und Intentionen unterliegt. Zwar ist die Verbindung des UNESCO-Welterbes mit Diskursen um Identität und kollektive Erinnerungen sinnvoll, denn der Umgang mit dem Welterbe weist sehr wohl Parallelen zu nationalen Erinnerungspraktiken auf. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die UNESCO nicht beabsichtigt, mit dem Welterbekonzept eine Art kollektives Gedächtnis der Menschheit zu konstruieren.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der hier rezensierte Band nicht als Einführung in die komplexe Thematik des „Kulturerbes“ zu verstehen ist - dazu sind seine Beiträge zu heterogen und zu spezialisiert. Über den Wert der einzelnen Studien hinaus liegt seine Bedeutung vor allem darin, dass er erstens einen guten Einstieg in die fortgeschrittene Diskussion über die teils strittigen Betrachtungsweisen des Konstrukts „Kulturerbe“ verschafft und zweitens auf vielfältige Weise verdeutlicht, dass die Definition des „Kulturerbes“ weniger auf einem festen und „objektivierbaren“ Kriterienkatalog beruht, sondern vielmehr ein dynamischer Prozess ist, der von wechselnden ökonomischen, soziopolitischen und ideologischen Faktoren bestimmt wird.

Miryam Marthiensen, Köln


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