ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Gestrich/Marita Krauss (Hrsg.), Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung, Bd. 6), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 219 S., kart., 40,00 €.

Bereits Ende der 1980er Jahre rief der renommierte Migrationshistoriker Klaus J. Bade Historikerinnen und Historiker dazu auf, die Folgen des Wanderungsgeschehens auch für die im Abwanderungsraum Zurückgebliebenen zu erforschen. (1) Der vorliegende Sammelband verfolgt eben dieses Ziel. Die darin veröffentlichten Beiträge gehen ursprünglich auf zwei Workshops zurück, die in den Jahren 1999 und 2001 vom Stuttgarter Arbeitskreis für Historische Migrationsforschung veranstaltet wurden. Einleitend stellen die Herausgeber Marita Krauss und Andreas Gestrich fest, dass im Gegensatz zu anderen Disziplinen die historische Migrationsforschung den Blick auf die Zurückgebliebenen zumeist unbeachtet gelassen hat. So erklärt sich auch der Untertitel des vorliegenden Bands: „Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte.“

Die insgesamt acht Beiträge zeigen ein vielfältiges Bild über die Zurückgebliebenen. Zeitlich erstrecken sie sich von der Antike bis in die Neueste Geschichte; geografisch beziehen sie sich auf mehrere Abwanderungsgebiete in Europa und inhaltlich behandeln sie Personengruppen unterschiedlichster sozialer Provenienz. Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert und verfolgt damit größtenteils eine Struktur, die die Folgen für die Zurückgebliebenen zuerst für Einzelpersonen, dann für kleinere Gruppen und schließlich für größere gesellschaftliche Einheiten beleuchtet.

Den ersten Teil eröffnet Marita Krauss mit einer lebensgeschichtlichen Untersuchung über den Abschied und das Zurückbleiben in der NS-Zeit. Im Vordergrund stehen jüdische Personen, die sich aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung gezwungen sahen, Deutschland zu verlassen, und laut Marita Krauss drei Kategorien von Zurückgebliebenen hinterließen: Betroffene, Beistehende und Nutznießer. Das Abschiednehmen sieht Marita Krauss als einen äußerst emotionsgeladenen Abschnitt des Migrationsprozesses, der mit Festmählern oder Zutrinken ritualisiert wird, um Sicherheiten wiederherzustellen oder, wie sie in Anlehnung an die Psychoanalyse schreibt, „Markierungen des Unbegreifbaren“ (S. 37) zu setzen. Dabei wird von den betroffenen Zurückgebliebenen das Ausmaß der Trennung vielfach geleugnet oder verharmlost, während von Beistehenden die Auswanderung von Mitarbeitern oder Nachbarn zwar bemerkt oder bedauert wird, längerfristig aber zumeist in Vergessenheit gerät. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Nutznießer, die vom Weggang der Juden und der ,Arisierung' der deutschen Gesellschaft Profit schlugen und sich weitgehend - auch nach dem Krieg - keiner Schuld bewusst waren. Im zweiten Beitrag dieses Teils konzentriert sich Ortwin Pelc auf die bildlichen Darstellungen des Abschieds und bedient sich dabei vor allem des Beispiels der Salzburger Protestanten, deren Zwangsmigration 1731/32 bis ins 20. Jahrhundert ein Motiv blieb. Die Analyse von zeitgenössischen Flugblättern, Andachtsbildern und Druckschriften sowie von späteren Holzschnitten, Gemälden und ersten fotografischen Zeugnissen lässt eine klare Folgerung zu: Zurückbleibende werden in den bildlichen Darstellungen des Abschieds zugunsten der Auswandernden und deren Trennungsschmerzen und Zukunftsängsten ausgeblendet.

Im zweiten Teil des Sammelbands stehen zurückgebliebene Frauen und Familien im Mittelpunkt. Sowohl Sabine Geldsetzer als auch Brigitte Kasten nehmen die Kreuzzüge zum Gegenstand ihrer Untersuchungen und legen bei der Teilnahmeplanung die Bedeutung der Vermögens- und Lebensunterhaltssicherung für die zurückbleibenden Frauen und Familienmitglieder dar. Anne Geldsetzer gelingt es hierbei, die These von Jonathan Riley-Smith, dass Frauen allgemein die Kreuzzugspläne ihrer Ehemänner unterstützten, schichtspezifisch zu nuancieren. Im Gegensatz zu Riley-Smith ortet sie lediglich unter den Frauen der Oberschicht eine zuvorkommende Haltung, während weniger bemittelte Frauen offenbar erheblichen Widerstand leisteten. In ihrer breit angelegten Studie differenziert Brigitte Kasten ähnlich die These von Riley-Smith. In dem sie juristische Abhandlungen, päpstliche Schreiben und Chroniken durchleuchtet, zeigt sie, wie gerade Männer und Frauen der Oberschicht ihre Zustimmung für eine Kreuzzugsteilnahme gaben, wenn sie besondere vermögensrechtliche Garantien, Privilegien und Erlasse von der Kirche gewannen. Claus Rech beleuchtet seinerseits die Position der Frauen in der von der Schriftstellerin Clara Viebig als „Weiberdorf“ beanstandeten Gemeinde Eisenschmitt. Das in der Eifel gelegene Dorf war im 19. Jahrhundert von einer starken saisonalen Arbeitsmigration geprägt. Männer zogen in die Schwerindustriereviere Aachens oder der Ruhr und ließen tatsächlich vielfach Frauen und Familie in Eisenschmitt zurück. Dass dadurch im Dorf „zerrüttete“ Verhältnisse entstanden, widerlegt Claus Rech eindeutig. Weder schnellte die Geburtenrate der unehelichen Kinder an, noch lagen die Felder brach. Im Gegenteil, in Eisenschmitt verwalteten die zurückgebliebenen Frauen erfolgreich die Kleinhöfe als wirtschaftliches Rückgrat der Familien und tätigten Rechtsgeschäfte, die andernorts Männern vorbehalten waren. Schließlich befasst sich Annette Puckhaber mit einigen der rund 10.000 jüdischen Kindern, die 1938/39 mit dem Einverständnis der Eltern vom NS-Deutschland nach England in Sicherheit gebracht wurden. Wie die Autorin darlegt, zeigen die Briefe an die Kinder die verzweifelte Unbeholfenheit der zurückgebliebenen Eltern, die nichts über den immer grauenvoller werdenden Lebensalltag schrieben und bis in den Tod hinein auf ein Wiedersehen hofften. Auch in den wenigen Fällen, wo es nach dem Krieg zu einer Wiedervereinigung kam, hinterließ die NS-Vernichtungspolitik eine derartige Kluft, dass sich nach Jahren der Trennung das Familienleben äußerst schwierig gestaltete. Aus den Kindern waren lebhafte Jugendliche und junge Erwachsene geworden, aus den Eltern dagegen psychisch und physisch geschwächte Alte.

Im dritten und letzten Teil befassen sich Elisabeth Otto-Herrmann und Reinhard Buthmann mit den Folgen des Zurückbleibens für die Gesamtgesellschaft. Beide Autoren ziehen eine durchweg negative Bilanz. So zeigt Elisabeth Otto-Herrmann die Konsequenzen der römischen Expansionspolitik auf die ländliche Gesellschaft der Apenninenhalbinsel vor allem in der Zeit der Punischen Kriege. Durch die massive Aushebung der wehrpflichtigen Männer und deren Abwesenheit über teils Jahrzehnte wurde die ländliche Bevölkerung derart ausgezehrt, dass nach jahrelangem Ausharren die Zurückgebliebenen in die Städte abwanderten und dort vielfach unter prekären Umständen leben mussten. Kurzum die Gesellschaft spaltete sich im Zuge der römischen Expansionspolitik bis zur Endkrisis der Republik zusehends: Die reiche Oberschicht wurde noch reicher, die Unterschicht dagegen noch ärmer. Reinhard Buthmann schließt mit seinem Beitrag über die frühe DDR-Wissenschaft den Sammelband und zeigt anhand von einigen Fallbeispielen, wie die zurückgebliebenen, nicht marxistischen Wissenschaftler auf die Massenabsetz- und Fluchtbewegung ihrer Kollegen reagierten. Neben jenen, die versuchten, Nutzen daraus zu ziehen, standen Wissenschaftler, die wegen Repressalien um ihre Kontakte und Reisen in den Westen fürchteten oder gar zurückgestellt oder verhaftet wurden. Als Folge polarisierte sich die DDR-Wissenschaft. Neben einer breiten Masse isolierter Wissenschaftler, für welche die schlechten Bedingungen geradezu zur Abwanderung einluden, standen einige wenige vom Regime geförderte ,Topwissenschaftler'.

Der epochenübergreifende Rahmen zeichnet den vorliegenden Sammelband ganz besonders aus. Erstens steht dadurch dem in der Forschung vielfach zitierten Argument, dass für die Zurückgebliebenen die Auswanderung als Entlastung und soziales Ventil wirke, ein gegenteiliges Bild gegenüber. Die Beiträge von Elisabeth Herrmann-Otto und Reinhard Buthmann zeigen sehr deutlich, wie der Weggang einer substanziellen Gesellschaftsgruppe die römische und ostdeutsche Gesellschaft destabilisierte und mit in die Krise zog. Zweitens finden sich epochenübergreifend immer wieder die von Marita Krauss vorgeschlagenen Kategorien von zurückgebliebenen Betroffenen, Beistehenden und Nutznießern. Für die historische Migrationsforschung liefert Marita Krauss damit eine neue und durchaus plausible Differenzierung, die sie in ihrem Beitrag im Sammelband sehr gut zur Geltung bringt. Drittens zeigen die Beiträge epochenübergreifend die in der historischen Migrationsforschung weiterhin noch wenig beleuchtete Rolle und Bedeutung von Frauen in Migrationsprozessen. Wie Sabine Geldsetzer und Brigitte Kasten zeigen, akzeptierten Frauen, deren Männer eine Kreuzzugsteilnahme ins Auge fassten, solche Absichten nicht ohne ihr Zutun und nahmen einen wesentlichen Einfluss auf den endgültigen Entscheid. Ähnlich machen die Beiträge von Claus Rech und Elisabeth Herrmann-Otto deutlich, dass Frauen, wenn sie zurückblieben, nicht tatenlos auf die Rückkehr ihrer Männer und Söhne warteten, sondern sich aktiv für das Wohl der Familie einsetzten. Im Vergleich zu den Eisenschmitter Frauen im 19. Jahrhundert führten zwar die italienischen Gutsfrauen und Töchter angesichts der fast permanent geführten Kriege im antiken, republikanischen Rom mit weniger Erfolg ihre Höfe, doch legt ihre Landflucht ihre erhöhte Mobilität und Handlungsvollmacht offenkundig dar.

Methodisch bietet der Sammelband allerdings nichts Neues. Die Beiträge fußen im Wesentlichen auf bewährten sozialgeschichtlichen Ansätzen, welche die historische Erfahrung von Subjekten und/oder die Strukturen gesellschaftlicher Prozesse erarbeiten. Ego-Dokumente werden untersucht, individuelle historische Erfahrungen rekonstruiert und als Indikator für die soziale Lage der Zurückgebliebenen (Geburtenziffer, Heiratsraten, Erntevolumen oder Einkommenshöhen) analysiert. Wie die Herausgeber gleich zu Beginn der Einführung argumentieren, verstehen sie außerdem das Zurückbleiben als eine Folge des Migrationsprozesses, die stark mit Gefühlen des Verlusts empfunden wird. Dass es aber auch eine mit positiven Erwartungen und Hoffnungen verbundene Strategie sein kann, bleibt unerwähnt. Die zahlreichen ,weißen Witwen' Italiens sahen zum Beispiel zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weggang ihrer Männer und Söhne als Teil eines Kalküls, das Einkommen der Familie zu steigern. Nicht Verlust, sondern Hoffnung auf einen zukünftigen, besseren Lebensstandard verband sich mit der in den Familien bewusst gefassten Entscheidung zur geografisch divergierenden Rollenaufteilung zwischen dem fortgehenden Mann und der zurückbleibenden Frau. (2) Dasselbe gilt für die jüdischen Eltern, die nach der ,Reichskristallnacht' von 1938 ihre Kinder nach England verschickten, um sie vor dem NS-Terror zu bewahren. Der Verlust ihrer Anwesenheit im NS-Deutschland verband sich mit dem festen Glauben der Eltern, die Kinder in England in Sicherheit zu wissen.

Schließlich überzeugt das von den Herausgebern gehegte Postulat der Vernachlässigung des Themas nicht gänzlich. Seit den hier einleitend zitierten Arbeiten Bades sind zahlreiche sozial- und kulturgeschichtliche Werke erschienen, die viele Aspekte des Zurückbleibens aufgegriffen und beleuchtet haben. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Arbeit von Marita Krauss über die deutschen Remigranten nach 1945, in der sie beispielsweise die arrogante Haltung der zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung gegenüber den aus den alliierten Ländern zurückkehrenden Mitbürgern und Mitbürgerinnen in überzeugender Art und Weise herausstellt. (3) Ähnliches gilt für die Wissenschaft der DDR und die ländliche Gesellschaft Italiens im alten Rom, deren Zerfall bereits wissenschaftlich erarbeitet worden ist. Nichtsdestotrotz bietet der Sammelband insgesamt vor allem einen sehr plastischen Einblick in die individuelle Verarbeitung von hoch emotionalen Lebenserfahrungen, wie sie die Trennung von Bekannten und Geliebten und das Zurückbleiben im Migrationsprozess darstellen.

Pascal Maeder, Basel

Fußnoten:


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