ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Klein, Die „Gettoverwaltung Litzmannstadt“ 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburger Edition, Hamburg 2009, 683 S., geb., 38,00 €.

Das unter deutscher Besatzung 1940 geschaffene Getto Litzmannstadt ist in den letzten Jahren Gegenstand mehrerer Publikationen gewesen. Während Michael Alberti es im Rahmen einer Gesamtdarstellung über die Vernichtungspolitik im Reichsgau Wartheland thematisiert hat (1), hat sich Gordon J. Horwitz mit der Geschichte der nach dem deutschen Einmarsch in das polnische Lodz demonstrativ umbenannten Stadt befasst. (2) Zudem liegt inzwischen die zu Recht viel gelobte Dissertation von Andrea Löw über das Leben im Getto in Buchform vor (3), und der Gießener Arbeitsstelle für Holocaustliteratur kommt das Verdienst zu, mit der Chronik des Gettos ein zutiefst erschütterndes Dokument in einer vorbildlichen Gesamtausgabe ediert zu haben. (4) Was vermag vor diesem Hintergrund die Studie von Peter Klein an Neuem zu erbringen?

Im Mittelpunkt der Arbeit, die auf einer 2007 an der TU Berlin angenommenen Dissertation beruht, stehen nicht die Opfer, sondern die Täter. Klein, der unter anderem Mitarbeiter und Sprecher im Team der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht gewesen ist und heute für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur arbeitet, geht im Kern der Frage nach, welche Rolle die lokalen Mitarbeiter der Gettoverwaltung Litzmannstadt in dem Prozess von der Gettoisierung der jüdischen Bevölkerung bis zu deren weitgehender Ermordung 1944 spielten. Sein Ziel ist es, die Analyse polykratischer Strukturen mit einer akteurszentrierten Sichtweise zu verbinden, indem er die personellen und institutionellen Netzwerke nachvollzieht und deren Bedeutung aufzeigt. Damit reiht er sich in die neuere Täterforschung ein, die aus der Kritik am vermeintlich anonymen ,Verwaltungsmassenmord` entstanden ist und die stattdessen Fragen nach intentionalem Handeln und gruppendynamischen Prozessen stellt.

Peter Klein hat im Laufe seiner Recherchen keinen Weg gescheut, um alle relevanten Archivalien zu sichten, und entsprechend gut fundiert ist seine Argumentation. Mit Litzmannstadt hat er sich für das zweitgrößte Getto im besetzten Polen und das am längsten existierende im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich entschieden. Abgeriegelt am 30. April 1940, lebten dort rund 200.000 Menschen. Im Sommer 1944 wurde das Getto endgültig aufgelöst, die zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Bewohner wurden zum größten Teil nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Zurück blieb ein sogenanntes ,Aufräumkommando', dessen Angehörige am 19. Januar die Befreiung durch die Rote Armee erleben durften. Von rund 200.000 Bewohnern überlebten auf dem Gebiet des Gettos Litzmannstadt nur etwa 850 Menschen.

Trotz seines mikrohistorischen Ansatzes beschränkt sich Klein nicht auf die Analyse der lokalen Netzwerke, sondern behält stets deren Interaktion mit höheren Institutionen auf regionaler oder Reichsebene im Blick. Dies ist schon deshalb überzeugend, weil der Betrieb des Gettos als Reichsauftrag definiert war, demzufolge die Stadt im Auftrag des Reichsministeriums des Innern handelte. Zur entscheidenden Person vor Ort wurde hierbei Hans Biebow, der im Mai 1940 die Leitung der „Wirtschafts- und Ernährungsstelle Getto“ übernahm. Zugleich ermöglicht dieser Zugriff es dem Verfasser, das Handeln der verschiedenen Akteure zueinander in Beziehung zu setzen und Schnittmengen, aber auch Konflikte aufzuzeigen.

Konsens bestand unter allen beteiligten deutschen Stellen über die grundsätzliche Strategie einer zunehmenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Differenzen gab es hingegen hinsichtlich der hierbei zu verfolgenden Strategie, konkreter hinsichtlich des Verhältnisses von Ausbeutung und Vernichtung. Während in Berlin und auf Ebene der Gauleitung verschiedene Großszenarien mit dem Ziel einer baldigen Zwangsumsiedlung der Gettobewohner in ein anderes Gebiet, etwa ins das Generalgouvernement oder im Rahmen des Madagaskarplans, diskutiert, letztendlich aber nie realisiert wurden, war Hans Biebow bestrebt, das Getto während der Zeit seiner Existenz ökonomisch rentabel zu organisieren, um dauerhafte Kosten zu vermeiden. Durch die Einführung einer Scheinwährung (Mark-Quittungen), durch die Vermittlung von Arbeitsaufträgen aus dem Reich und andere Maßnahmen versuchte er, das Getto wie einen Wirtschaftsbetrieb zu führen, und unter den Firmen, die von der hier geleisteten Zwangsarbeit zu profitieren suchten, finden sich viele illustre Namen wie Neckermann oder der Leipziger Brockhaus-Verlag, der im Getto 200.000 Exemplare des „Volksbrockhaus“ binden lassen wollte.

Die Analyse Kleins macht deutlich, dass die von Hans Biebow geführte Gettoverwaltung lokal eine mächtige Instanz war, die vor allem den Judenrat mit dem umstrittenen „Judenältesten“ Chaim Rumkowski immer wieder dazu zwingen konnte, die Anordnungen der deutschen Stellen umzusetzen. Das Verhältnis zu übergeordneten Stellen war hingegen in erster Linie durch Konflikte geprägt, was vor allem im Laufe des Jahres 1943 deutlich wurde, als der Handlungsspielraum Hans Biebows auf gemeinsames Betreiben von Arthur Greiser und Heinrich Himmler drastisch beschnitten und damit die Auflösung des Gettos eingeleitet wurde.

Klein macht wiederholt deutlich, dass die angestrebte Rentabilität des Gettos entgegen verbreiteter Annahmen in der Forschungsliteratur zu keinem Zeitpunkt erreicht wurde. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass die Frage unterschiedlicher Strategien nichts an der aktiven Involvierung in die Schoah ändert: Das Handeln Hans Biebows war von Beginn an gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet, was besonders daran deutlich wird, dass seine Behörde ebenso eifrig, wie sie den Erhalt des Gettos mit dem Ziel einer effektiven Ausbeutung propagierte, zugleich die finanzielle Organisation des Vernichtungslagers Kulmhof übernahm und in Pabianice ein Verwertungslager für die Kleidungsstücke der Ermordeten einrichtete.

Peter Klein hat insgesamt eine beindruckend detaillierte, geradezu mikroskopisch genaue Studie vorgelegt, die unverkennbar das Ergebnis vieler Jahre Forschung ist. Durch den von ihm gewählten mikrohistorischen Zugriff und die Fokussierung auf die Netzwerke der Akteure wird vieles erklärbar und manches bisherige Urteil der Forschung korrigiert. Zugleich liefert die Arbeit auch weiterreichende Erkenntnisse über die Genese der ,Endlösung' insgesamt, indem sie auf die Bedeutung von dienstlicher Routine und personellen und institutionellen Kontakten für die Umsetzung der Schoah verweist.

Als einziger Kritikpunkt sei angemerkt, dass die Darstellung stellenweise derart akribisch ist, dass dies die Lektüre mit zunehmender Dauer doch nachhaltig erschwert. Hier wäre mit Blick auf die Leserschaft eine etwas stärkere Straffung des Stoffes gut gewesen, wobei allerdings das offensichtliche Dilemma besteht, dass es gerade dieser genaue Blick des Verfassers ist, der seine Argumentation so überzeugend werden lässt.

Peter Klein hat zweifellos eine grundlegende Arbeit geschrieben, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine bisher weitgehend noch ausstehende vergleichende Untersuchung der Rolle der Gettoverwaltungen im Prozess der Schoah bietet.

Hans-Christian Petersen, Mainz

Fußnoten:


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