ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerhard Müller, Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, Bd. 6), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006, X + 802 S., geb., 66,00 €.

Gerhard Müllers Buch zu Goethes Universitätspolitik ist nicht nur eine Jenaer Universitätsgeschichte zwischen 1780 und den 1820er Jahren, nicht nur ein wichtiger Baustein zur deutschen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte der Phase um 1800 und nicht nur ein Beitrag zur Politik- und Kulturgeschichte des deutschen Kleinstaats im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, sondern auch die bislang fundierteste Monografie über den ,politischen' Goethe und damit ein Markstein der Goethe-Forschung. Der Versuch, die „bis heute weitgehend unverstandene Art Goethes Politik zu treiben“ (S. 3) in ihrem konkreten Umfeld, ihren Vernetzungen, Akteuren, Methoden, Zielen und Motiven an dem für Goethes „amtliche Tätigkeit“ zentralen Bereich der Universität Jena deutlich zu machen, bildet die Grundlage der Studie. Sie setzt sich mit diesem, auf alle erreichbaren Quellen, nicht nur auf die teilweise spärliche amtliche Überlieferung gestützten Ansatz sowohl von zurückliegenden, bis zur Erinnerungsliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reichenden Sichtweisen als auch von gegenwärtigen Deutungen ab, die - wie im Fall des amerikanischen Germanisten Daniel Wilson - auf einer öffentlichkeitswirksam zugespitzten Thesenbildung aus den Quellen beruhen und den autoritär-repressiven Kleinstaaten-Politiker Goethe herausstellen. Zu Recht kann Müller der auch von ihm als notwendig erachteten Kritik an Wilson in einem einleitenden konzisen Forschungsüberblick zu bedenken geben, für eine kritische Auseinandersetzung mit älteren wie aktuellen Interpretationen mangele es ihr zwar nicht an „verbaler Schärfe“, wohl aber an einer „detaillierten Quellenkenntnis über Goethes konkretes Politikhandeln“ (S. 23). Diese Quellenkenntnis, die eine Fülle von Material über den Dichter als Universitäts- und Wissenschaftspolitiker präsentiert, es in die zeitgenössische Landes- und Reichs- beziehungsweise Bundespolitik einordnet und oft einen geradezu intimen Einblick in politische Entscheidungsprozesse in Weimar ermöglicht, stellt die Studie eindrucksvoll unter Beweis. Erst sie, so Müller, ermöglicht es, das Verdienst der Kritik an einem entpolitisierten, unter den Bedingungen des Kalten Kriegs lange weiterwirkenden, über Kaiserreich und Nationalsozialismus tradierten Goethe-Bild anzuerkennen und zugleich „einseitigen, tribunalartig überzogenen oder gar historisch unzutreffenden Argumentationen“ (S. 24) Paroli zu bieten.

Goethe erscheint bei Müller als Paradebeispiel für eine Form von Politik, die - so wenig die exzeptionelle Wirkung von Goethes Persönlichkeit ohne Weiteres auf andere zu übertragen ist - für die Universitäts- und Wissenschaftspolitik in Sachsen-Weimar-Eisenach, aber auch für die gesamte kleinstaatliche Politik und Verwaltung im ,langen' 19. Jahrhundert bestimmend bleiben sollte: Immer wieder traten Gestalter hervor, die, von einem konservativen Pragmatismus und der Konzentration auf das im Rahmen der stets aktuellen kleinstaatlichen Existenzsicherung real Erreichbare geprägt, ihre amtliche Stellung zur Grundlage einer persönlich-informellen Einflussnahme und Steuerung in der kleinstaatlichen Politik machten. Die Möglichkeit kurzfristiger, direkter Kommunikation, flache Bürokratien und die vergleichsweise engen Grenzen der gezielten Interessenorganisation im Kleinstaat schufen einen politischen Handlungsrahmen, in dem, gerade für die Universitäts- und Wissenschaftspolitik des Kleinstaats, noch bis in die 1870er Jahre hinein erfolgreich agiert werden konnte.

Bei Goethe wurde diese Art kleinstaatlicher Politik mehr und mehr zu einer „Form der Weltaneignung“ (S. 29) im doppelten Sinne: Sie wirkte mit einer steten Veränderung seiner Perspektive auf Geschichte, Kultur und Gesellschaft auf seine künstlerische Produktion zurück und bildete auch institutionell-organisatorisch seine „Plattform“, um „Ziele anzugehen, die den Horizont der kleinstaatlichen Administration weit überstiegen.“ (S. 32). Dennoch bewahrt Müllers umfassende Quellenkenntnis seine Studie vor einer Stilisierung seines ,Helden' zum absoluten Bewegungszentrum in der Universitäts- und Wissenschaftspolitik der universitätserhaltenden sächsischen Herzogtümer: Das Problemfeld der Wissenschaftspolitik der ernestinischen Höfe um 1800 und ihrer Einzelbeziehungen zur Jenaer Universität, so betont Gerhard Müller, konterkarierte eine alles beherrschende Stellung Goethes. Und auch andere Protagonisten, allen voran Christian Gottlieb Voigt, vermochten in Kooperation mit Goethe, aber durchaus auch explizit gegen ihn, wie zum Beispiel in Voigts repressiver akademischer Disziplinarpolitik 1791/92 sichtbar (S. 318-349), Akzente zu setzen.

Für die gesamte Universitätsgeschichte bedeutsam ist Müllers Studie vor allem deshalb, weil sie am Beispiel einer Universität, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu den frequenzstärksten im Reich gehörte, um 1800 die ,Heimstatt' der Kantischen Philosophie darstellte und mit Protagonisten wie Schiller, Fichte, den Schlegels, Schelling und Hegel einen der geistigen Brennpunkte Deutschlands bildete, Reform und Modernisierung einer deutschen Universität beschreibt, die nicht dem in der Universitätsgeschichte vielbeschworenen und heute allerorten relativierten „Humboldtschen Modell“ folgte. Freilich vollzog sich in Jena auch kein „konzeptionsloser Wandel durch Anpassung“, wie ihn Peter Moraw 1982 in seinem wegweisenden Aufsatz zu „Aspekten und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte“ als deutschen Regelfall vermutete. Müller, der sein Modell bereits in einer Vielzahl von Beiträgen vorskizziert hat, die, wie auch die vorliegende Gesamtstudie, im Jenaer DFG-Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ entstanden sind, arbeitet mit Blick auf Goethe detailliert das Konzept einer Aktivierung und Effektivierung der „alten“ Universität in ihrem Kernbestand heraus, die der Überzeugung des Wissenschaftspolitikers Goethe entsprach, Veränderung und Innovation durch die Integration in Bestehendes zu erreichen. Deshalb mag Müller dem Dichter und Minister den Titel eines „Universitätsreformers“ nicht beilegen. Goethe setzte, wie Müller zeigt, vor allem auf „Trojanische Pferde“ (S. 217) im Senat, nach der Jenaer Universitätskrise von 1803 auf eine „informelle Universitätskuratel“ (S. 510-526), die er im Zusammenspiel mit seinem Ministerkollegen Voigt und dem Jenaer Ordinarius Heinrich Carl Abraham Eichstädt etablierte. Besonders das Ordens- und Verbindungswesen, die Frage der akademischen Disziplin insgesamt, die bei Müller eine auch für die studentengeschichtliche Forschung äußerst aufschlussreiche, quellengesättigte Darstellung findet, boten dazu die Handhabe.

Unter den Formen informeller und integrativ konzipierter Einflussnahme auf die Universität ragt Goethes „Wissenschaftskonzern“ (S. 751) heraus, für den Müller den mittlerweile durchgesetzten Begriff der „extraordinären Universität“ geprägt hat. Die gezielte Einsetzung und Förderungen von jüngeren, wissenschaftlich zukunftsorientierten Extraordinarien, die Schaffung an die Universität angelagerter, aber Goethes Aufsicht unterstehender Institute, schließlich die Bereitstellung wissenschaftlicher Kommunikationsforen über Gesellschaften und Publikationsorgane schufen einen breiten wissenschaftspolitischen Gestaltungsraum, der bis in die 1820er Jahre die Institutionalisierung wissenschaftlicher Innovation in Jena ohne fortdauernde Konflikte um die überkommene Universitätsstruktur ermöglichte. Diese blieb bis zu der ab 1815 konzipierten, nach den Karlsbader Beschlüssen auf einen entpolitisierten Kern reduzierten konstitutionellen Universitätsreform (S. 594-720) weitgehend unangetastet. Die „aus der humanistischen Gelehrsamkeitstradition des ausgehenden Mittelalters und der Reformation hervorgegangene protestantische deutsche Universität“ blieb „Goethes Universitätsideal“ (S. 731). Gerade vor diesem Hintergrund wird das die Jenaer Verhältnisse auch in der Wissenschaftsfinanzierung flexibilisierende Modell der „extraordinären Universität“ von Gerhard Müller einleuchtend als die bedeutendste universitäts- und wissenschaftspolitische Leistung Goethes charakterisiert. Um Müllers beeindruckende, für den an der Universitätsgeschichte Interessierten eben wegen ihres Detailreichtums nachgerade spannende Studie wird nicht herumkommen, wer sich künftig mit der deutschen Universität um 1800 auseinandersetzen möchte.

Stefan Gerber, Jena


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