ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Angelika Lampen/Armin Owzar (Hrsg.), Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne (Städteforschung, Reihe A, Bd. 76), Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2008, XXXVI + 357 S., geb., 49,90 €.

Die Diskussion um schrumpfende Städte - im deutschsprachigen Raum von den Soziologen Walter Siebel und Hartmut Häußermann Ende der 1980er Jahre angestoßen - hat mit der Wende von 1990 und der darauf folgenden Entwicklung der Städte in Ostdeutschland stark an Bedeutung gewonnen. Spätestens seit der 2004 in Berlin gezeigten Ausstellung „Schrumpfende Städte/Shrinking Cities“ ist das Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Der vorliegende Sammelband fasst die Ergebnisse eines Kolloquiums vom März 2006 zusammen, das unter dem Titel „Schrumpfende Städte in historischer Perspektive“ am Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster stattfand. Die 14 Beiträge, die eine Zeitspanne von der Antike bis zur Gegenwart abdecken, sollen, so Armin Owzar in seiner Einführung, zu einer differenzierteren Betrachtung aktueller Problemlagen beitragen und gängige Deutungsmuster hinterfragen helfen. Beteiligt sind neben Historikern auch Archäologen, Geografen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, Stadtplaner und Architekten.

Den Anfang machen zwei Althistoriker. Klaus Freitag weist Destabilisierungs- und Auflösungsprozesse in der griechischen Poliswelt schon vor der späthellenistisch-römischen Epoche nach. Christian Witschel untersucht die Entwicklung des römischen Städtewesens zwischen 300 und 600 n. Chr. und findet nur in wenigen Teilen des Reichs gravierende Veränderungen im Städtenetz oder den Vorstellungen davon, was Urbanität ausmacht. Begriffe wie „Schrumpfung“ oder „Entstädterung“ lehnt er darum für diese Epoche ab.

Es folgen vier Beiträge zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Terry R. Slater liefert in seinem Beitrag über Städte auf den britischen Inseln zwischen 1300 und 1700 einen Überblick über die 40-jährige britische Forschungsgeschichte zu diesem Thema. Nachdem anfangs einige Einzelfallstudien zu einer stark negativen Sicht auf die Entwicklung führten, erbrachte die Erweiterung der Perspektive in Richtung Städtesystem und Stadtregion ein deutlich differenzierteres Bild. Demnach konnten gerade mittelgroße Städte und ländlich geprägte Gebiete vom Niedergang urbaner Zentren profitieren; die Städtehierarchie Großbritanniens verflachte. Matthias Untermann und Thomas Künzel befassen sich in ihren Beiträgen mit Wüstungsprozessen. Untermann erläutert beispielreich, wie sich solche Prozesse innerhalb heute noch bestehender Städte archäologisch nachweisen lassen, und fordert, die Stadtarchäologie müsse allzu einfache Kontinuitätsannahmen kritisch hinterfragen und sich deutlicher von Schrift- und Bildquellen distanzieren. Eine kritischere Sicht auf die schriftliche Überlieferung fordert auch der Historiker Thomas Künzel, wenn er die Bedeutung langfristiger Faktoren und Entwicklungslinien für Wüstungsprozesse höher einschätzt als die in den Quellen häufig angeführten Einzelereignisse wie Kriege oder Naturkatastrophen. Am Beispiel der Krise des Bierbrauergewerbes der Stadt Lübeck im 17. Jahrhundert untersucht Philip R. Hoffman-Rehnitz die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Reduktionsprozessen. Die verwendeten Nieder- und Untergangsrhetoriken verwiesen zwar einerseits auf reale Erfahrungen, diese seien aber andererseits zum Zweck politischer Einflussnahme verdichtet worden und hätten somit selbst Wandlungsprozesse beeinflusst.

Es folgen drei Beträge, die sich mit der Hochphase der Wachstumsideologie, vom späten 19. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des ,Ostblocks', befassen. Selbst in der Phase der Industrialisierung und Urbanisierung habe es eine große Zahl stagnierender und schrumpfender Städte gegeben, so Stadtplaner Carsten Benke. Der Blick auf kleinere Städte und Modernisierungsnachzügler zeige, auf welch vielfältige Art und Weise es einigen von ihnen gelungen sei, neue Entwicklungspfade zu finden, indem sie sich auf eigene Stärken und Besonderheiten besonnen hätten. Dirk Schubert untersucht die städteplanerischen Strategien im London der Zwischenkriegszeit. Ungeachtet langfristiger ökonomischer Interessen habe man hier Suburbanisierungs- und Dezentralisierungstendenzen von Wohnraum und Arbeitsplätzen planerisch vorangetrieben und so einen Funktions- und Bedeutungsrückgang der Kernstadt in Kauf genommen. Wie Umverteilungsprozesse in einem geschlossenen demografischen System unter den Bedingungen eines stetigen Bevölkerungsrückgangs und staatlicher Planung ablaufen, zeigt die Architektin Celina Kress am Beispiel der Entwicklung in der DDR. Zuwächse gab es demnach nur in Bezirksstädten, an von staatlicher Planung bevorzugten Wirtschaftsstandorten und in Neubausiedlungen in Stadtrandlage, während historische Innenstädte allmählich zerfielen.

Schließlich beschäftigen sich vier Beiträge mit der jüngsten Entwicklung. Seit der ,Wende' werde das deutsche Städtesystem von einem Nebeneinander von Expansion und Reduktion bestimmt, so der Stadtökonom Peter Franz. Die stärksten Wachstumszentren lagen demnach im Süden, die am schnellsten schrumpfenden Städte im Osten. Der Trend zu Suburbanisierung und Dekonzentration habe sich in West und Ost abgeschwächt. Für den Geografen Heinz Heineberg markiert das Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ aus dem Jahr 2001, das auf Rückbau und die Aufwertung von Problemquartieren abzielte, die Ablösung des Wachstumsparadigmas und den Beginn eines konstruktiven Umgangs mit Reduktionsprozessen. Mit dem Programm „Stadtumbau West“ habe die Bundesregierung 2005 die Weichen dafür gestellt, dass dieser Strategiewechsel nun auch in Westdeutschland erfolge. Die schrumpfende Stadt dürfe nicht zum allgemeinen Entwicklungsmodell erhoben werden, warnt der Geograf Markus Hesse. Sie sei vielmehr Teil eines langfristigen Wechsels von Expansion und Reduktion urbaner Räume. Hesse spricht von einer „atmenden Stadt“ und zeigt am Beispiel der ökologischen Aufwertung innerstädtischer Brachen, welche neuen Chancen sich aus den aktuellen Prozessen ergeben. Im letzten Beitrag betont Hartmut Häußermann noch einmal die Chancen der aktuellen Entwicklung, warnt aber gleichzeitig davor, diesen Wandel allein den Kräften des Markts zu überlassen. Er fordert Stadtentwicklungskonzepte, die genügend Partizipationsmöglichkeiten für die Betroffenen schaffen.

Der Sammelband ist insgesamt gelungen. Es ist nachvollziehbar, wenn angesichts der langfristigen Perspektive die Gemeinsamkeiten über die Jahrhunderte betont werden, während die jeweiligen Besonderheiten etwas zurücktreten. Immerhin lehnt etwa Witschel in seinem Beitrag den Begriff „Schrumpfung“ schlicht ab. Auch fällt auf, dass die Beiträge zur Zeit nach 1945 kaum historische Tiefenschärfe aufweisen. Laut Owzar fand die Ablösung der Leitkategorie „Wachstum“ in der Stadtforschung erst Mitte der 1990er Jahre statt. Schaut man aber beispielsweise in altindustrielle Regionen wie das Ruhrgebiet, so muss man sich fragen, ob es nicht schon deutlich früher zu Veränderungen bei Planungs- und Entscheidungsprozessen sowie Leitvorstellungen gekommen ist, wie das auch Untersuchungen zu anderen Gesellschaftsbereichen nahelegen. Hier besteht aus Sicht der Zeitgeschichte ein Desiderat. Alles in allem ist der vorliegende Bande jedoch äußerst anregend, vermittelt weitreichende Einblicke in über 2000 Jahre Stadtgeschichte und bildet somit einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen.

Tobias Gerstung, Tübingen


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