ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Berthold Unfried/Jürgen Mittag/Marcel van der Linden (Hrsg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen/Transnational Networks in the 20th Century. Ideas and Practice, Individuals and Organisations, hrsg. im Auftrag der International Conference of Labour and Social History (ITH), Akademische Verlagsanstalt, Wien 2008, 332 S., brosch., 25,00 €.

Grenzüberschreitende Prozesse und Verflechtungen rücken zunehmend in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Dies belegt auch der auf zwei Tagungen der International Conference of Labour and Social History (ITH) zurückgehende Sammelband, der insbesondere die Rolle von transnationalen Netzwerken im Rahmen von weltweiten Veränderungen thematisiert. Dabei beinhaltet der Band zum einen theoretisch ausgerichtete Beiträge, sowohl über das Begriffsverständnis von Transnationalismus und das Forschungspotenzial von Transnationalisierungsansätzen als auch über die Konzepte, den Nutzen und den Nachteil der Netzwerkanalyse für die Gesichtswissenschaft. Zum anderen präsentiert der Band zahlreiche empirische Beiträge zu Entstehung und Aktivitäten von hegemonialen und normativen Netzwerken, zu Wissens- und Politiknetzwerken sowie zu transnationalen Netzwerken der Arbeiterbewegung. Dementsprechend gliedert sich der Band in vier Abschnitte: Nach den theoretisch ausgerichteten Beiträgen des ersten Hauptabschnitts behandelt der erste von drei empirischen Themenblöcken die Zirkulation von Ideen, Einstellungen und Vorstellungen in Normen verbreitenden Netzwerken. Der zweite empirische Themenblock behandelt den Transfer von Wissen am Beispiel der Rolle von Experten und Stiftungen sowie think tanks als Knoten von Netzwerken. Der dritte und letzte empirische Themenblock ist ausschließlich der Rolle und den Aktivitäten von Netzwerken der Arbeiterbewegung gewidmet. Mit dieser Unterteilung kann der Band zu einer kleinen Reihe von anderen Neuerscheinungen gezählt werden, in denen der historischen Analyse grenzüberschreitender Entwicklungen ebenfalls theoretisch-methodologische Vorüberlegungen über Netzwerke und Netzwerkanalysen vorangestellt sind. (1)

In einem einleitenden Beitrag des ersten Themenblocks definiert Susan Zimmermann Transnationalismus vor dem Hintergrund des Begriffes Internationalismus. Sie unterstreicht, dass beiden Begriffsdefinitionen weit mehr Gemeinsamkeiten zu Grunde lägen als bisher angenommen (S. 32). Erstens würde bei beiden Wortbedeutungen eine Grenze überschritten oder berührt werden, wodurch sich das jenseits der Grenze liegende Andere bestimmen ließe. Zweitens würde es sich bei diesem Anderem um die andere Nation beziehungsweise die anderen Nationen handeln. Letztlich geht ihre Begriffsbestimmung allerdings über die bekannte und herkömmliche Definition von Transnationalismus, dass es sich dabei um grenzüberschreitende Erscheinungen handelt, nicht hinaus.

Bereits im Beitrag der Herausgeber Jürgen Mittag und Berthold Unfried wird auf die ausgesprochen vielschichtige Wortbedeutung des Netzwerkbegriffs hingewiesen (S. 12). Die vielen unterschiedlichen Lesearten des Begriffs kritisiert auch Christoph Boyer in seinem Beitrag über Netzwerktheorien und Geschichtswissenschaften. Deshalb ist er bemüht, einen Netzwerkbegriff zu rekonstruieren, der für die Erkenntniszwecke sowohl der Sozialwissenschaften als auch der Geschichtswissenschaft brauchbar sein könnte. Boyer versteht Netzwerke als eine Organisationsform, die gegenüber alternativen Formen sozietaler Koordination (Markt, Hierarchie) unter gewissen Voraussetzungen Transaktionskostenvorteile - insbesondere die Ressource Vertrauen (S. 52) - besäße. Außerdem kennzeichnet Boyer Netzwerke als Universalien sozietaler Koordinierung, wodurch der Netzwerkbegriff auch einen potenziell ungemein breiten Anwendungsbereich fände (S. 57). Letztlich diene der Netzwerkbegriff nicht nur dazu, Netze zu klassifizieren und zu etikettieren, sondern auch als ein Analyserahmen zur Erklärung konkreterer historischer Zusammenhänge.

Wie verschieden und umfangreich die Anwendungsmöglichkeiten des Netzwerkbegriffs beziehungsweise der Netzwerkanalyse auf der Grundlage eines Transnationalisierungsansatzes sind, zeigen sodann die vielen unterschiedlichen Beispiele der empirisch angelegten Beiträge. Hier wird beispielsweise die International Labour Organization als Teil eines transnationalen Netzwerks zur Reform kolonialer Sozialpolitik 1940-1944 (Daniel Maul) ebenso untersucht wie die internationale Netzwerktätigkeit der Friedrich-Ebert-Stiftung (Patrik von zur Mühlen) oder auch die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der Pfingstbewegung (Sebastian Schüler).

Allerdings können die Fallstudien nicht immer den von Boyer formulierten Anspruch, konkrete historische Zusammenhänge durch die Anwendung der Netzwerkanalyse zu erklären, erfüllen und haben mitunter eher einen deskriptiven Charakter. So liegen die besonderen Stärken des Bands im ersten Themenblock mit den theoretisch ausgerichteten Beiträgen. Hierzu zählt neben den Beiträgen von Zimmermann und Boyer auch der gemeinsame Beitrag von Wolfgang Neurath und Lothar Krempel, der die Genese der mittlerweile mehr als 100-jährigen Netzwerkforschung nachzeichnet und deren Anwendungsmöglichkeiten für die Geschichtswissenschaft auslotet. In der dagegen noch jungen Verknüpfung zwischen Netzwerk- und Geschichtsforschung sehen beide Autoren viele neue Impulse und Methoden, um historische Fragestellungen auszuweiten und schärfen zu können (S. 79).

Insofern ist vor allem der theoretisch orientierte Themenblock des Bands für eine breite Fachleserschaft interessant, die sich generell über den Nutzen sowie die Nachteile der Netzwerkanalyse für die Geschichtswissenschaft informieren möchte. Darüber hinaus stellt der Sammelband eine sehr geeignete Grundlage für die weitere empirische Erforschung von transnationalen Netzwerken dar. Die Themenvielfalt der empirisch orientierten Beiträge lässt dabei erkennen, wie groß das Potenzial der historischen Forschung bei einer Verknüpfung mit der Netzwerkanalyse - nicht nur im Bereich transnationaler Netzwerke - ist.

Christian Salm, Portsmouth

Fußnoten: