ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Akira Iriye/Pierre-Yves Saunier (Hrsg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History. From the mid-19th Century to the Present Day, Palgrave Macmillan, Basingstoke 2009, XLII, 1226 S., geb., 315 $.

Einen solchen Band hat es noch nicht gegeben. Das liegt weniger am Serientitel, denn es gibt gerade im englischsprachigen Bereich gut gehende Märkte für dictionaries und encyclopaedias aller Art. Freilich stellt das hier vorzustellende Werk kaum ein Wörterbuch oder Lexikon dar. Vielmehr ist der umfassende Anspruch auf Erfassung des Transnationalen so auch noch nie ansatzweise gestellt und partiell eingelöst worden. Gerade in der Begriffsbestimmung lassen sich die beiden renommierten Herausgeber aus Harvard und Paris aber nicht festlegen. Sie meinen hier ein weites und oft bei anderen abgrenzend definiertes Feld, das sonst trennscharf entangled history, world history, international history, auch global history umfassen oder heißen kann. Wichtig ist Iriye und Saunier, dass dieser Ansatz den engeren Begriff des Nationalen überschreite, seien doch die modernen Nationen insgesamt relativ neue Einrichtungen, deren Grenzen jedoch seit einiger Zeit deutlicher würden.

Ein allgemeines Nachschlagwerk darf der Leser daher allerdings kaum erwarten. Gewiss finden sich auch zu erwartende Begriffe wie Cold War, Fascism and Anti-Fascism, Region, Trade, War - um nur einige wenige zu nennen -, nicht zuletzt auch der Begriff Transnational als solcher. Aber diese sind manchmal nur als eine Art Oberbegriffe zu verstehen, die sich in vielfältigen Verästelungen in Unterbegriffen ausfalten lassen. Von einer ursprünglich alphabetischen Liste der zu erstellenden Lemmata seien sie, so die Herausgeber, im weiteren Planungsprozess abgekommen zugunsten von insgesamt zehn Baumdiagrammen, die, eingangs abgedruckt, das Buch vielleicht am besten erschließen.

Mit je bis zu vier Unterteilungen (also Ästen und Zweigen) sind dies: 1. People flows, 2. World order and disorder, 3. Words, sounds and images, 4. Production and trade, 5. Planet Earth, 6. Space and time, 7. Body and soul, 8. Concepts and processes, 9. Groups and causes, 10. Knowledge. Schon bei dieser Aufzählung fällt die Inkongruenz der Kategorien auf, deren einzelne Zweige dann auch gezielt in mehreren ,,Bäumen" an sehr unterschiedlichen Stellen auftauchen. Diese Unschärfen, die wohl in der Sache selbst liegen, unterstreichen, dass die Herausgeber mit ihrer Auswahl nicht Kanon bildend wirken wollen, wie sie selbst betonen. Vielleicht ist es gerade das Fließende, Tastende und Vorläufige, das in den Kategorien 1 und 8 bereits angedeutet wird, welches dieses Werk auszeichnet.

Zweifelsohne finden sich in vielen Artikeln auch solide Grunddaten, Abläufe, Organisationsschemen und damit gleichsam lexikalische Einträge, welche eine genaue Definition und gute Erstorientierung möglich machen. Aber viele, wenn nicht die meisten, stellen quer formulierende und dann auch entsprechend quer denkende Lemmata dar, die mit Vergnügen ob ihres Witzes oder innovativer Ausrichtung gelesen werden können. Das gleitet dann doch gelegentlich ins Außenseiterische ab.

Der durch diesen Band erzielte Gewinn liegt in mehr oder weniger kurzen, spaltig gedruckten Essays von hervorragenden Sachkennern internationaler Ausrichtung, fast schon ein who is who der internationalen Wissenschaft. Es wird nicht verwundern, dass Amerikaner und Franzosen stark vertreten sind, aber auch Italiener und Briten; gerade bei den hier versammelten deutschen Autoren wären einem noch manche weiteren möglichen Beiträger eingefallen. Aber auch Autoren, die nicht aus der europäisch-nordamerikanischen Wissenschaftslandschaft stammen, sondern von anderen Kontinenten, sind gut vertreten. Hier bekennen die Herausgeber offen, sicher wäre ein Artikel von einem Araber, der in Indien lebe, anders geschrieben worden als von einem der von ihnen zur Mitarbeit gebetenen Verfasser. Von wissenschaftlichem Herkommen haben die Herausgeber neben ,transnational' arbeitenden Historikern eine Fülle von Kulturwissenschaftlern aller Richtungen bis hin zu Literaturwissenschaftlern und Geografen gewinnen können, was gelegentlich spannende Dialoge möglich macht beziehungsweise dem nicht primär transdisziplinär arbeitenden Wissenschaftler schöne Erkenntnisse und neue Einsichten auch in nicht so geläufigen Methoden ermöglicht.

Stärken und Schwächen eines solchen Kompendiums lassen sich immer nach verschiedenen Schemata abhandeln. Es ist eigentlich müßig zu sagen: wenn Lemma a), warum nicht auch Lemma b)? Man kann sich über den zu knappen oder zu langen Umfang vieler Beiträge streiten. Es lassen sich gewiss auch Sachfehler finden (die dem Rezensenten jedoch nicht als gravierend aufgefallen sind). Alle Großartikel haben Verweise auf weitere Lemmata, welche die Vertiefung sehr erleichtern. Es leuchtet etwa ein, wenn im einleitenden Baum Globalization zehn Unterkategorien aufgewiesen werden, von denen eine Modernization sei. Deren Auffächerung in Religion, Family, Urbanization, Consumer Society, Car Culture und Technical Standardization leuchtet schon weniger ein. Cold War, ein Prinzip oder Wirkrahmen, von dem man annehmen kann, das er etwa ein halbes Jahrhundert nachhaltig wirkte, wird im Übersichtsbaum der Unterkategorie War zugeteilt. Von ihm leiten sich sechs recht willkürliche Zweige von Abolition of Forced Labour Convention bis hin zu Vietnam ab. Nach vielen Artikeln stehen - sehr sinnvoll - Querverweise. Nach dem Artikel Cold War sind dies nach meiner Zählung 67 Verweise, die von Asia über Coca Cola und Social Sciences bis zu Youth Organizations reichen - ein bisschen viel, auch ein wenig beliebig. Dennoch kann sich jeder Leser leicht von der Sinnhaftigkeit einer solchen Zuordnung überzeugen und sich dann zumeist gewitzte Artikel empfehlen lassen.

Überraschend etwa ist ein Beitrag: Christmas and Halloween, versucht er doch, Gemeinsamkeiten kultureller Art dieser Feiern seit der Antike aufzuzeigen. Diesen zwei Spalten stehen fünf über Christianity im Allgemeinen voran. Sexuality and Migration lautet ein weiterer Eintrag, der die Erfordernis der Reproduktion von Migranten in der neuen Gesellschaft betont, dabei aber einen starken Schwerpunkt auf lesbische, gay und queer Migranten (LGD) der letzten Jahrzehnte legt. Zehn Spalten sind darüber hinaus den International Migration Regimes gewidmet, keiner aber der Migration als solcher (die jedoch im genannten Artikel angesprochen wird). Insgesamt finden sich nur drei Jahreszahlen als Lemmata: 1848, 1960s, 1989 - und September 11, 2001. Warum nicht andere? Insgesamt ist der Beginn für dieses Lexikon um die Mitte des 19. Jahrhunderts für das ganze Unternehmen nachvollziehbar und sinnvoll. Viele Artikel gehen jedoch wesentlich weiter zurück, und eine größere Anzahl an Einträgen ergibt sich erst aus den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, ja vielfach sind es nur weniger Jahre, was kaum eine historisch tiefgreifende Behandlung zulässt.

Der Rezensent gesteht, dass er beim ersten Blättern in diesem dictionary eher verwirrt war, beim zweiten allerdings sehr viel Vergnügen empfand, in das sich nur gelegentlicher Ärger über Beliebigkeit mischte. Ein Buch wie dieses kann man kaum an einem Stück lesen. Aber trotz der vielen Querverweise und einem vorzüglichen Namen- und einem ebensolchen Sachregister auf ca. 150 Spalten kann man hierzu kaum gezielt wie zu einem Referenzwerk greifen, das manche Neugierde schon befriedigen würde. Was die Herausgeber mit einem Team von über 300 Beiträgern geleistet haben, ist aber dennoch beachtlich und innovativ. So ist ein wundervolles Buch (im deutschen Wortsinn) entstanden, wie es seinesgleichen sucht. Es regt zum Stöbern, zum Blättern, zum Staunen an. Es gehört nicht so sehr in die Kategorie ,,Handbücher". Sondern hier liegt eher ein kulturwissenschaftliches Kompendium vor, dass den Blick in Raum, Zeit und neuen Methoden, neuen Gegenständen und neuen Sichtweisen ungemein weiten kann. Jedenfalls liegt eines der innovativsten Unternehmen der letzten Jahre vor!

Jost Dülffer, Köln


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