ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Nicole Colin/Beatrice de Graaf/Jacco Pekelder/Joachim Umlauf (Hrsg.), Der ,,Deutsche Herbst" und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven (Historie, Bd. 2), transcript Verlag, Bielefeld 2008, 231 S., kart., 22,80 €.

Die Schwarzweißfotografie auf dem Umschlag des Sammelbands zeigt eine gut gesicherte hohe Mauer aus schmutzigem Waschbeton, versehen mit einem erst mäßig verblichenen Graffito, aus dem die Worte ,,Stammheim" und ,,RAF" hervorstechen - ein Bild, das auf den ersten Blick aus vielen deutschen Städten vertraut zu sein scheint. Die Irritation stellt sich erst ein, wenn man versucht, den genauen Wortlaut des aufgesprühten Slogans zu entziffern: Die Sprache des Graffito ist niederländisch. In der Einleitung klären die vier Herausgeber den Fall. Das Foto zeigt die Mauer einer großen Strafanstalt im Südosten von Amsterdam, die von ihren Gegnern als ,,neues Stammheim" bekämpft wurde. ,,Das Bild zeigt deutlich", so die Autoren, ,,dass die Konfrontation der Roten Armee Fraktion mit dem westdeutschen Staat auch über die Grenzen Wellen geschlagen hat" (S. 7). Mit dieser Beobachtung ist gleichzeitig der bemerkenswerteste Befund dieser Veröffentlichung formuliert, der auf eine interdisziplinäre Tagung anlässlich des 30. Jahrestags des ,,Deutschen Herbstes" in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts Amsterdam zurückgeht. Die niederländisch-deutsche Koproduktion vereinigt neben der Einleitung 13 wissenschaftliche Aufsätze und drei Zeitzeugenberichte. Das ist sehr viel für einen so schmalen Band, zumal knapp die Hälfte der beteiligten Autoren ihre Deutungen bereits andernorts ausführlich dargelegt hat. Weniger wäre hier wohl tatsächlich mehr gewesen, denn bei manchen der übrigen Beiträge bedauert der Leser die allzu knapp bemessene Seitenzahl.

In der kurzen Einleitung skizzieren die Herausgeber den Deutungsrahmen ihres Bands. Terrorismus wird hier im Einklang mit jüngeren Forschungstendenzen als ,,soziale Konstruktion" gelesen, als komplexer, interaktiver Kommunikationsprozess zwischen Tätern, Staat und Gesellschaft (S. 9). Statt die biografischen oder gesellschaftlichen Hintergründe der ersten Anschläge zu beleuchten, will man vor allem die Reaktionen in den Blick nehmen, die das Geschehen zeitgenössisch, aber auch ex post in Politik, Medien und Kunst ausgelöst hat. Dabei soll ausdrücklich auch die internationale Dimension berücksichtigt werden. Diesem bislang eindeutig unterbelichteten Aspekt ist der erste, interessanteste Teil des Buchs gewidmet, der rezeptionsgeschichtliche wie komparatistisch angelegte Fallstudien umfasst. Jacco Pekelder und Janneke Martens beschäftigen sich in spannend zu lesenden Beiträgen mit der niederländischen Solidaritätsbewegung zugunsten der RAF (Pekelder), die wiederum stark von der mehrheitlich antideutschen Haltung der niederländischen Massenmedien profitieren konnte (Martens): ,,Man hätte fast glauben können, die RAF habe nur einige Flugblätter verteilt" (S. 99). Beatrice de Graaf versucht sich an einem ambitionierten Vergleich der institutionellen Reaktionen auf die terroristische Herausforderung in den USA, den Niederlanden und der Bundesrepublik. Ingrid Gilcher-Holtey setzt sich mit der Biografie des amerikanischen SDS-Führers Tom Hayden auseinander und widerspricht einmal mehr der Auffassung, die begrenzten Regelverletzungen der Situationisten und ihrer verschiedenen nationalen Ableger seien umstandslos als die Wurzeln des linken Terrorismus zu betrachten. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Colin betrachtet die Erinnerung an die RAF im Spiegel des zeitgenössischen Theaters in Österreich und Frankreich. Während sie Elfriede Jelineks umstrittene ,,Ulrike Maria Stuart" als virtuose und zeitgemäße Dekonstruktion der RAF-Geschichte begreift, liest sie Michel Deutschs ,,La décennie rouge. Mensch oder Schwein" eher als Beispiel dafür, ,,wie bequem sich ein großer Teil der französischen Linken inzwischen in ihren Erinnerungen an dieses dunkle Kapitel eingerichtet" habe (S. 71). - Im zweiten, mediengeschichtlich ausgerichteten Kapitel findet sich neben vielem Bekanntem auch ein überzeugender Aufsatz Angelika Ibrüggers zur Auseinandersetzung um Heinrich Bölls berühmte publizistische Provokation ,,Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" aus dem Frühjahr 1972. Ibrügger vermag sowohl den Artikel selbst wie auch die empörte Kritik klug zu analysieren und die Kontroverse sehr plausibel als ,,Bemühen um eine konservative Tendenzwende zugunsten des Machtverlustes der Regierung" zu historisieren (S. 168). - Aus dem dritten Teil, in dem mehrheitlich Zeitzeugen zu Wort kommen, sei vor allem ein weiterer Beitrag der Mitherausgeberin Nicole Colin zur Lektüre empfohlen. Sie thematisiert den Paradigmenwechsel, den die Beschäftigung mit dem Terrorismus in jüngster Zeit durch die stärkere Berücksichtigung der Opfer-Perspektive erfahren hat. Dabei kritisiert sie mit guten Gründen das mangelnde methodische Problembewusstsein in diesem Feld. Im Ergebnis könne die gut gemeinte Sympathiewerbung für die Toten und ihre Angehörigen durchaus ambivalente Folgen zeitigen.

Unterm Strich sind es also die (noch) weniger bekannten Namen, die in diesem Sammelband neue Akzente setzen. Eine breite Diskussion ihrer anregenden Thesen wäre wünschenswert.

Petra Terhoeven, Göttingen


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 21. Dezember 2009