ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Nachdem in der Nachbereitung von ,1968' im Jubiläumsjahr 2008 die mediale Kanonisierung dieses zeithistorischen Einschnitts vorangeschritten war, erlebte mit der Enthüllung der Stasi-Tätigkeit des Ohnesorg-Schützen Kurras eben jene Kanonisierung eine Erschütterung. Die Beschäftigung mit der globalen Revolte, die oftmals in der Deutung von ,,1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur" (Wolfgang Kraushaar) eine Zuspitzung, wenn nicht sogar Verkürzung erfährt, hat sich inzwischen zu einem zentralen Feld in der Historiografie der Bundesrepublik als auch der Globalgeschichtsschreibung entwickelt.

So hat die Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey zum 40. Jubiläum des annus mirabilis eine knappe Gesamtdarstellung bei Suhrkamp vorgelegt. Die ausgewiesene Expertin in Sachen ,1968' nimmt mit ihrem Versuch einer ,,Zeitreise" die große Erzählung von einer Verdichtung und Implosion der weltweiten Bewegung(en) vor. In Anlehnung an die historische Collage im Verständnis von Enzensberger zeichnet sie 24 Szenen an Schauplätzen in vielen Teilen der Welt nach, die das Protestjahr 1968 ausmachten: ,,Die historische Collage (re)konstruiert einen Bilderreigen, akzentuiert, dramatisiert Teile, das Ganze einzufangen vermag und beansprucht sie nicht." (S. 9).

In erster Linie springt die Darstellung chronologisch von einem Ereignis zum nächsten, angefangen bei der Tet-Offensive im Januar 1968. Diese erzählerische Dramaturgie, die im Sinne einer Beschleunigung der Entwicklung von Vietnam über Berlin nach Chicago, Paris und Prag führt, ist dabei dem kairos der Revolte auf der Spur. Wichtig ist Gilcher-Holtey, die in einigen Passagen auch ihre eigene Zeitzeuginnenschaft mit einbringt, vor allem die Darstellung der globalen Dimension ihres Untersuchungsgegenstandes. Diese wird an den trans-nationalen Leitfiguren der Bewegung, wie beispielsweise dem Revolutionstheoretiker Regis Debray oder Daniel Cohn-Bendit, deutlich. Die internationale Dimension der Bewegung zeigt sich nicht zuletzt in der von Gilcher-Holtey hervorgehobenen Universalität der politischen Programmatik von ,,Autogestion", ,,Selbstbestimmung", ,,Shutasei". Auch wenn die hier präsentierte Geschichte von ,1968' in ihrem Gesamtrahmen den bekannten Pfaden folgt, so ist es vor allem die exkursartige Darstellung der kulturellen Umwälzungen (Handke, Weiss, Enzensberger), aber auch einer Intellektuellengeschichte (Arendt, Adorno, Althusser), die Gilcher-Holtey zu einer komplexen, wenn auch mitunter etwas atemlosen Zeitreise zusammenfügt.

Hervorzuheben an dieser Darstellung ist die wiederkehrende Frage nach der Nachhaltigkeit jener Protestbewegung. Zwar klingt auch bei Gilcher-Holtey an einigen Stellen die teleologisch zugespitzte Einbettung von ,1968' in eine ,,Erfolgsgeschichte" der BRD an, doch diskutiert sie ebenso die Absorption der emanzipativen Forderungen nach Autonomie und Enthierarchisierung durch den ,,neuen Geist des Kapitalismus", wie ihn Boltanski und Chiapello so eindrücklich beschrieben haben. Gilcher-Holteys abschließende Frage hierzu: ,,Eine List der Geschichte?", bleibt dann jedoch zu lapidar (S. 205). Unter der Fragestellung der Nachhaltigkeit von ,1968' steht auch das Gespräch mit dem ehemaligen SDS-Aktivisten Tom Hayden am Ende des Buchs. Hayden bezieht hier explizit Stellung in seiner Kritik zum Kosovokrieg und in Bezug auf den gesellschaftlichen Aufbruch in Venezuela und knüpft damit an die alten Forderungen des amerikanischen SDS nach einer participatory democracy an.

So schwungvoll und durchaus auch emphatisch Gilcher-Holtey eine große Erzählung abliefert, liegt doch gerade hierin auch ein Kritikpunkt an ihrer Herangehensweise begründet. So bemerkt sie zu Beginn in Bezug auf ihre Untersuchungsperspektive, dass hierbei jene im Mittelpunkt stehen, ,,die eine Autobiographie geschrieben oder sich zu Wort gemeldet, Stellung genommen, in Texten verarbeitet haben, was sie erlebten." (S. 9). So liegt die agency hier bei den ,,Repräsentanten ihrer nationalen Trägergruppen" (ebd.), und damit wird, zugespitzt formuliert, die soziale Revolte zu einer repräsentativen Demokratie ,großer' historischer Persönlichkeiten.

Einen anderen Zugang zur Sozialgeschichte liefert in Ergänzung zu diesem Gesamtüberblick der Sammelband von Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried. Hier ist es weniger die ,,Zeitreise", welche die Untersuchung prägt, als die Frage danach ,,Wo ,1968' liegt", also im Sinne von Pierre Nora die Bestimmung der ,,lieux de mémoire".

Hervorzuheben an der Konzeption des Sammelbands ist die Betonung der Herausgeber, dass wir es 1968 nur mit der Zuspitzung länger währender gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu tun hatten, zumindest mit dem hier gewählten Fokus auf die Bundesrepublik: ,,Die Neujustierung der westdeutschen Gesellschaft fand nicht plötzlich statt, sondern in einem längeren Zeitraum, im wesentlichen zwischen den späten fünfziger und den frühen siebziger Jahren. Allerdings verdichteten sich die Transformationsprozesse in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zwischen 1967 und 1969 derart augenfällig, dass sie als grundstürzender kultureller Umbruch wahrgenommen wurden." (S. 12).

Dabei wird mit den hier publizierten Aufsätzen explizit nicht allein die Studentenbewegung als ,,Ferment gesellschaftlicher Veränderung" (Marcuse) gesehen. Vielmehr zeigt sich in den Aufsätzen von Torsten Gass-Bolm zur Schülerbewegung 1967-1969 und Patrick Bernhard zum Verhältnis von APO und Zivildienstleistenden die Breite, und damit letztlich die tiefe gesellschaftliche Durchdringung, des Aufbruchs in die Revolte.

Einen wichtigen Akzent setzt hier, gerade in Anbetracht der von Götz Aly losgetretenen Debatte, der Beitrag von Wilfried Mausbach zur Rolle von ,,Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der ,zweiten Gründungsphase' der Bundesrepublik". Kurz skizziert Mausbach das ,,kommunikative Beschweigen" (Lübbe) der 1950er Jahre, um in der Folge die Bedeutung der Konfrontation mit Auschwitz für die studentische Bewegung herauszuarbeiten. So folgte in den frühen 1960er Jahren eine ,,emotionale Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus", Auschwitz wurde dabei als ,,Erinnerungsort" etabliert (S. 27).

Präziser als beispielsweise Alys denunziatorische Abrechnung beschreibt Mausbach auch den Bezug eines Teils der ,68er'-Bewegung auf die Opfer des Nationalsozialismus als ,,Opfer-Rochade": ,,Die studentische Linke bemächtigte sich nun selber der Leerstelle, die der bisherige Erinnerungsdiskurs offen gelassen hatte. Als ,konkrete Juden' und aktive Widerstandskämpfer definierte die Protest- und Provokationselite sich aus der Täternation heraus." (S. 34).

Um eine ähnliche Ebene der Bewusstseinsbestimmung geht es auch in der Darstellung von Dagmar Herzog, die die sexuelle Liberalisierung der Bundesrepublik in jenen Jahren untersucht und dabei spannende Bezüge zu einer sexuellen Libertinage während der Weimarer Republik und dem ideologischen Versprechen einer solchen gegenüber der ,Volksgemeinschaft' im Nationalsozialismus herstellt. Sich solchen Traditionen gegenüber unbewusst, sah sich die APO bald einer bürgerlichen Sexwelle gegenüber: ,,Die Neue Linke war ihrerseits entsetzt über die eifrige Beteiligung der ehemals so spießigen Bevölkerung an dieser Spielart der Revolution." (S. 107).

Während Christina von Hodenberg in ihrem Beitrag zu ,1968' und dem Wandel der Massenmedien noch einmal den Generationenkonflikt zwischen den ,45ern' und den ,68ern' in den westdeutschen Redaktionen untersucht, wie sie es bereits ausführlich in ihrer großen Habilitationsveröffentlichung getan hat, widmet sich Detlev Siegfried der Kommodifizierung der Revolte und ihrer (Sub-)Kultur. Siegfried betont dabei die Formierungs- und Dissoziationsprozesse eines ,,Gegenmilieus" (S. 70). Auch am zeitgenössischen Beispiel zeigt sich hier, auf der Metaebene auch von Gilcher-Holtey skizziert, die von den ,68ern' unterschätzte Flexibilität des Kapitalismus bei der Vereinnahmung auch gegenkultureller Strömungen.

Der Vergleich dieser beiden so unterschiedlichen Veröffentlichungen zum bundesdeutschen und weltweiten Transformationsprozess um 1968 zeigt, wie gut sich die verschiedenen Ansätze einer Mikro- und Makrogeschichte fruchtbar ergänzen können. Gleichzeitig wird auch deutlich, um was es der Forschung in den nächsten Jahren verstärkt gehen sollte: Den Blick nun auch verstärkt auf den politischen und wirtschaftlichen Machtapparat zu richten, und wie dieser über gesellschaftliche Ausschlüsse aber auch Vereinnahmungen in Wechselwirkung zur politischen und kulturellen Revolte stand und steht. Bei der Frage nach den Protagonisten der Protestbewegungen wäre gegenüber einer dominierenden, auch persönlichen, ,,Erfolgsgeschichte" von 1968 der Blick zu richten auf diejenigen, die mehr oder weniger ,auf der Strecke' geblieben sind. Die Kranken, Verrückten, Toten, Gescheiterten dieser Generation sind eben nicht diejenigen, die im öffentlichen Rückblick die Geschichte der Revolte vermitteln. Sich ihrer anzunehmen, würde schließlich auch der Seite des Scheiterns des Aufbruchs der 1960er Jahre einen Platz in den Geschichtsbüchern einräumen.

Hanno Balz, Bremen


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