ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Birgit Retzlaff, Widerstand der Sozialistischen Jugend in der frühen DDR. Verfolgung, Opposition und Widerstand von Mitgliedern und Freunden der Sozialistischen Jugend Deutschlands. Die Falken in der DDR 1949-1959. Eine Dokumentation, hrsg. vom Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Ingo Koch Verlag, Rostock 2005, 255 S., kart., 21,80 €.

Die Arbeit von Birgit Retzlaff ,,Widerstand der Sozialistischen Jugend in der frühen DDR" ordnet sich in den Kontext sich sozialdemokratisch verstehender Jugendbildungsarbeit ein. Dies in mehrfacher Hinsicht: Angeregt wurde das Buch von Heinz Westphal, der von 1952 bis 1957 Bundesvorsitzender der ,,Sozialistischen Jugend Deutschland - Die Falken" und Mitglied im Förderkreis ,,Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung" war. Westphal, der 1998 verstarb, ist zugleich das Buch gewidmet; das ,,Archiv der Arbeiterjugendbewegung" tritt im Untertitel neben der Autorin als Herausgeberin in Erscheinung.

Die vorliegende Abhandlung basiert auf einer Ende 1996 vom Förderkreis ,,Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung" und von Westphal unterstützten Voruntersuchung, aus der das Projekt ,,Verfolgung und Widerstand von Falken in der SBZ/DDR" hervorging. Ziel war es, die ,,Verfolgungsschicksale von Mitgliedern und Freunden der Falken in Berlin und Ostdeutschland zu dokumentieren" (S. 7). Diesem Anspruch wird die Abhandlung durchaus gerecht. Sie stützt sich dabei auf Zeitzeugenaussagen, wobei vor allem Kontakte des bereits benannten Förderkreises genutzt werden konnten, auf persönliche Aufzeichnungen und Dokumente wie Kopien von Anklageschriften aus den privaten Nachlässen und Archiven der Zeitzeugen sowie auf Dokumente aus dem Bestand des Archivs der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Hinzugezogen wurde zudem die Forschungsliteratur.

Birgit Retzlaff ist bestrebt, bevor sie sich den Einzelschicksalen zuwendet (ab S. 33), den von ihr erörterten Gegenstand in einen größeren Kontext einzuordnen. In dem Kapitel ,,Aus der Geschichte" (S. 13-22) verweist sie auf die politischen Rahmenbedingungen; im nachfolgenden Kapitel (S. 23-32) werden ,,Rechtliche Voraussetzungen zur Unterdrückung von Opposition und Widerstand" benannt. Die Einbettung in die Gesamtgeschichte der frühen DDR ist zu begrüßen und wertet das Buch auf, auch wenn die Verwendung der Begriffe Widerstand und Opposition eher beliebig erscheint und nicht jede Formulierung als geglückt zu betrachten ist. So zum Beispiel die von der ,,bewussten politischen Opposition" (S. 13) (schließlich gab es wohl kaum eine unbewusste politische Opposition) oder die von der ,,Planung für die unsägliche Geschichte" (S. 27).

Im Hauptteil des Buches wendet sich Birgit Retzlaff den von ihr akribisch rekonstruierten Einzelschicksalen zu, die sich chronologisch entlang der großen politischen Ereignisse darstellt. Jene Zeitachse reicht - um einige Beispiele anzuführen - von 1949/50 (S. 35), über das Deutschlandtreffen der FDJ (S. 49), den 17. Juni 1953 und ,,Die Jahre 1957/58 - die Kaltstellung der Gegner des Regimes" (S. 169) bis zum Jahr 1959 (S. 211), für das Retzlaff - bezogen auf den sozialdemokratischen Jugendwiderstand in Ostdeutschland - weitgehend ,,das Ende der Opposition und des Widerstands" konstatiert.

Birgit Retzlaff hat mit ihrem Buch eine engagierte Abhandlung zu einem wichtigen Thema der Zeitgeschichte vorgelegt. Sie leistet hiermit einen weiteren Beitrag für die Oppositions- und Widerstandsforschung zur frühen DDR, der einen bislang wenig beachteten Aspekt beleuchtet und neue Einsichten - den Jugendwiderstand betreffend - vermittelt. Sie erörtert die Motive sozialdemokratisch organisierter oder auch nur orientierter Jugendlicher, sich den Bestrebungen der SED zur Monopolisierung der Jugendarbeit zu widersetzen. Zugleich zeigt die Autorin auf, wie Jugendliche Opfer einer auf Einschüchterung, politisch motivierter Gewalt und staatspolizeilicher Repression setzenden Zurückdrängungsstrategie der SED wurden. Hohe Haftstrafen gegen auch im Sinne der Strafprozessordnung noch Minderjährige, gegen Jugendliche und junge Erwachsene sowie die Kennzeichnung durch die Jahre der Haft sind nur einige der Folgen, die Birgit Retzlaff versteht plastisch zu schildern. Zugleich wird deutlich, dass die SED frühzeitig darauf setzte, politisch unerwünschtes Verhalten nicht nur strafrechtlich und politisch zu kriminalisieren. Durch die Heranziehung konstruierter Anschuldigungen und erzwungener Aussagen sollten Inhaftierte in einer Reihe von Fällen zudem anderer, nicht politischer Vergehen bezichtigt werden.

Die Abhandlung von Birgit Retzlaff enthält trotz aller Vorzüge bedauerlicherweise auch mehrere Ungenauigkeiten, unglückliche Formulierungen und handwerkliche Schwächen, so dass die Reihe der Kritik, die es anzumerken gilt, leider etwas länger ausfallen muss. So erfolgt - um nur einige Beispiel zu nennen - die Anführung der Berliner Morgenpost als Quelle, ohne dass der Titel oder das Erscheinungsdatum oder -jahr genannt werden (S. 28, Fußnote 61, sowie im Quellenverzeichnis). Die Formulierung, dass ,,1949 immer mehr nachrichtendienstliche Tätigkeiten der Besatzungsmacht auf das MGB übergingen" (S. 30), ist in sich irreführend (das MGB war Teil der Besatzungsmacht und war auch schon zuvor nachrichtendienstlich im Operationsgebiet tätig), Ortsnamen sind mitunter falsch geschrieben (so Strelitz, das hier als Streglitz auftaucht, ähnlich Königsberg als Königsburg), der Gefangenentransport von Potsdam nach Brandenburg-Görden ,,per Straßenbahn" war auch 1950 nicht möglich (lediglich vom Brandenburger Hauptbahnhof nach Görden fuhr eine Straßenbahn), auch heißt jene Bundeseinrichtung, die die Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR verwaltet, offiziell BStU und wurde lediglich umgangsprachlich mitunter in den Jahren von 1995 bis 2000 als ,,Gauck-Behörde" (u.a. S. 65) bezeichnet. Häufig gibt es im Text zudem Redundanzen (etwa S. 35). Ärgerlich ist darüber hinaus, dass als Quellenzitate ganze Dokumente, mitunter mehrseitig, als - oft schwer lesbare - Faksimile in den Fließtext eingefügt sind (z.B. S. 67-73).

Trotz aller Kritik hat Birgit Retzlaff jedoch eine wichtige Arbeit vorgelegt, der es zu wünschen ist, dass sie einen gebührenden Platz im Rahmen der historisch-politischen Bildungsarbeit erhält. Das von ihr verfolgte Ziel, Jugendlichen heute etwas über das Engagement und die Opfer derer zu vermitteln, die sich dem Alleinvertretungsanspruch der SED einst widersetzten, kann nicht hoch genug bewertet werden.

Christian Halbrock, Berlin


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