Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Hanco Jürgens/Jacco Pekelder/Falk Bretschneider u.a. (Hrsg.), Eine Welt zu gewinnen! Formen und Folgen der 68er Bewegung in Ost- und Westeuropa, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009, 165 S., brosch., 24,00 €.
,1968' und kein Ende, mag man angesichts der neuerlichen Publikationswelle zum 40-jährigen ,,Dienstjubiläum der Revolte" denken. Und doch eröffnen die Beiträge dieses schmalen, aber inhaltlich sehr dichten, von Hanco Jürgens, Jacco Pekelder, Falk Bretschneider und Klaus Bachmann herausgegebenen Sammelbands interessante Perspektiven. Denn angesichts zahlreicher, zu nationaler Nabelschau neigender 68er-Veröffentlichungen möchte der Band den transnationalen Charakter der Protestbewegung hervorheben. Der im Titel angedeutete ost-west-europäische Blick wird insofern eingelöst, als der Schwerpunkt auf einer vergleichenden Perspektive der Ereignisse und ihrer vermeintlichen Folgen in Westdeutschland, Frankreich, den Niederlanden und Polen liegt. Acht Beiträge loten die unterschiedlichen Protestformen und -folgen in methodischer und thematischer Vielfalt aus, so dass das Spektrum der Herangehensweisen von Medienanalysen über Umfrageauswertungen bis zum Oral History-Interview reicht.
Dabei neigen die Beiträge - wie in der Einleitung angekündigt - zu einer ,,kulturellen Deutung des Phänomens ,68'" (S. 15), indem sie die Frage nach Identitäten sowie die Konzentration auf eine medienanalytische Herangehensweise in den Mittelpunkt stellen. Dies verleiht dem multiperspektivischen Band, zusammen mit einer sinnvollen Textfolge, Kohärenz. Mit den Niederlanden und Polen rücken in den ersten beiden Aufsätzen zwei Länder in den Fokus, deren Situation in den 1960er Jahren - bedingt durch die Teilung Europas und deren politische und wirtschaftliche Folgen - nicht unterschiedlicher sein konnte. James Kennedy und Jerzy Eisler interessieren sich für die Reaktionen der jeweiligen gesellschaftspolitischen Eliten auf die aufkeimenden Proteste. Gleichwohl es auch in Amsterdam Mitte der 1960er Jahre zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Studenten und der Polizei kam, so erlebte die Niederlande wohl eher einen ,,sanften Übergang" (S. 20), eher kanalisierte Transformationsprozesse als ein die politischen Grundfeste erschütterndes ,1968' wie beispielsweise in Frankreich. Die relative Abwesenheit gewaltsamer Konfrontationen resultierte auch, so James Kennedy, Professor für niederländische Geschichte an der Universität Amsterdam, aus einem gezielten ,,Management der Modernität" durch die etablierten Eliten. Ihre Offenheit und sorgfältige Haltung gegenüber als unaufhaltsam empfundenen Modernisierungsprozessen habe dazu beigetragen, ,,dem Wandel ausreichend Platz einzuräumen" und die ,,Kanalisierung der Veränderungen" (S. 22) zu steuern. Den regimekritischen Aktionen der polnischen Studenten- und Arbeiterjugend, die in den ,,Märzereignissen" des Jahres 1968 kulminierten, stellte sich die kommunistische Führung Polens indessen mit Härte entgegen, wie der polnische Historiker Jerzy Eisler anschaulich nachzeichnet. In seinem Beitrag unterstreicht er die Unterschiede zwischen der westeuropäischen und polnischen ,,Generation 68" (S. 33) hinsichtlich ihrer strukturellen Ausgangsbedingungen, Ziele und Adressaten sowie betont ihr jugendliches Alter als kleinsten gemeinsamen Nenner. Ergänzend anmerken ließe sich hier, dass sich sowohl die west- als auch die osteuropäischen Proteste als ein Konflikt zwischen Neuer und Alter Linke fassen lassen, dessen Tragweite über die Generationen hinausgeht.
Die vor allem durch intensive Presseberichterstattung vorangetriebenen transnationalen Wechselbeziehungen zwischen niederländischer ,,Provo"- und deutscher Protestbewegung stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Peter van Dam und Niek Pas. Peter van Dam, Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg ,,Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse" der Universität Münster, vergleicht ausgehend von einer systemtheoretisch orientierten Medienanalyse deutscher und niederländischer Zeitungen in den 1960er Jahren die Berichterstattung über die Proteste. Während, wie er resümiert, in den niederländischen Medien eine Konstruktion ,,transnationaler 1960er Jahre" (S. 57) auszumachen ist, könne man für den deutschen Untersuchungsgegenstand von einer ,,diskursiven Trennung" nationaler und internationaler Berichterstattung reden. Dass dennoch gerade die deutsche Fernsehberichterstattung über die Amsterdamer ,,Provos" zu transnationaler Diffusion und Inspiration der deutschen Kommunebewegung beigetragen hat, verfolgt Niek Pas, Lecturer am Institut für Medienstudien der Universität von Amsterdam, in seinem Beitrag zur niederländischen ,,Provo"-Bewegung. In diesem zeigt er Möglichkeiten und Grenzen ihres symbolischen ,,Spieles mit der Phantasie" (S. 67) analytisch auf. Dadurch trägt er zu einem differenzierteren Bild auf die Proteste und ihre Akteure bei, die - wie er am Ende feststellt - als Teil des Gedächtniskults längt zum ,,Klischee", zur ,,Ikone" (S. 77) erstarrt seien. Die Herstellung von Öffentlichkeit und ihre Politisierung bilden ein Schlüsselmoment der untersuchten Protestaktionen: Im Hörsaal, auf der Straße, am Arbeitsplatz ist Aufmerksamkeit schnell hervorgerufen.
Grégory Salle, Wissenschaftler am französischen CNRS, lenkt den Blick dagegen auf eine Institution, die sich lange gerade durch ihre Nicht-Öffentlichkeit auszeichnete. Die infolge von Gefangenenaufständen und Hafterfahrung radikaler Linker in den 1970er Jahren eingeleiteten Veränderungen im Strafvollzug versteht er als ,,Kern der politischen Konflikte" (S. 80) jener Zeit. Die ihnen zugrunde liegenden Politisierungsprozesse stellt er anhand thematischer Problemkonstellationen vergleichend gegenüber und leistet somit einen begrüßenswerten Beitrag zum Themenkomplex ,,1968 und die Justiz". Ergänzt wird Salle durch Jacco Pekelder, Lecturer am Institut für Geschichte der Universität Utrecht. Er lotet in einer kritisch-biografischen Annäherung an den Sozialphilosophen Peter Brückner dessen Haltung zur Gewalt der RAF aus und eröffnet so eine differenzierte Perspektive auf das Verhältnis der deutschen Linken zum Terrorismus in den 1970er Jahren.
Die letzten beiden Beiträge des Bandes erweitern die chronologische Perspektive und erlauben Hypothesen auf Folgen und Wirkungen der Proteste. Ob und inwieweit die unter den Schlagworten ,,Wertewandel" und ,,Generationenkonflikt" fungierenden Folgen beziehungsweise Gründe der 68er-Bewegung sich auch im Meinungsbild der Polen widerspiegeln, ergründet Klaus Bachmann, Professor für Politische Wissenschaft in Wroclaw und Warschau, anhand von (zu anderen Zwecken) erhobenen Meinungsumfragen in den 1960er und 1970er Jahren. ,,Heuchelei" und ,,Duckmäusertum" (S. 133) der älteren Generation habe die Nachkriegsgeneration, enttäuscht vom gesellschaftspolitischen Auftreten der Älteren, zum Rückzug ins Private bewogen. Zuletzt illustriert Alexandra Oeser die Erinnerung an ,1968' sehr anschaulich als komplexes Zusammenspiel historisch, individuell und sozial geprägter Erinnerungsebenen. Im Oral History-Interview mit Hamburger Geschichtslehrern analysiert sie Selbst- und Fremdbeschreibungen, die Rolle der NS-Vergangenheit und der eigenen Politisierung während der 68er-Proteste im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Sensibel thematisiert sie zudem die eigene Rolle als Wissenschaftlerin im Gespräch mit ihren Interviewpartnern, für die ihr Engagement in der Protestbewegung eine Möglichkeit darstellte, das Unausgesprochene in der Familie zu verstehen.
Der transnationale und chronologische Rahmen der vielschichtigen und informativen Beiträge dieses Bandes trägt dem Perspektivenwechsels auf die 68er-Jahre, die ,,années 68", Rechnung. Dennoch: Die favorisierte kulturelle Deutung und das Erklärungsmuster des Generationenkonflikts vernachlässigen den Blick auf profunde Konflikte zwischen Alter und Neuer Linke und drohen somit die genuin politische Komponente der Proteste zu vernachlässigen.
Silja Behre, Bielefeld