ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Schlemmer, Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 57; Bayern im Bund, Bd. 6), Oldenbourg Verlag, München 2009, 420 S., geb., 39,80 €.

Im Rahmen des seit 1996 beim Institut für Zeitgeschichte laufenden Projekts ,,Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973", das sich mit dem Strukturwandelprozess des überwiegend agrarisch geprägten Bayern zu einer modernen Industriegesellschaft beschäftigt, hat Thomas Schlemmer nun eine schöne Regionalstudie zum mittelbayrischen Donaugebiet und speziell zum Stadt- und früheren Landkreis Ingolstadt vorgelegt. Ohne eine einengende Begriffsdefinitionen von Strukturwandel vorzunehmen, die ohnehin schwer fallen würde, geht es in dieser klassischen Regionalstudie darum, durch eine dichte Beschreibung und Analyse der Zusammenhänge ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Wandels gängige Vorstellungen über Wege des Strukturwandels in Bayern zu hinterfragen und regional zu konkretisieren, um dadurch Einsichten in die Gesellschaftsgeschichte Bayerns im Prozess der erstaunlichen nachholenden Modernisierung zu gewinnen.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war die alte Garnisonsstadt Ingolstadt nicht allzu unglücklich, die militärischen Einrichtungen nach den Verheerungen des Kriegs loszuwerden. So bestand die Chance der Nutzung alter Gebäude und Flächen der Wehrmacht. Die provinzielle Stadt mit ihrem agrarischen Umland konnte auf die günstigen Voraussetzungen eines bayrischen Aufholprozesses hoffen. Hervorzuheben sind die bereits in Weimarer Zeiten begonnene Industrialisierung von Teilräumen, Betriebsverlagerungen während des Zweiten Weltkriegs und die Ansiedlung von Flüchtlingsbetrieben nach 1945. Mit der verspäteten Industrialisierung nach dem Krieg erhielt der Untersuchungsraum wie Bayern insgesamt dann besonders auch jüngere, erntwicklungsfähigere Branchen wie Elektrotechnik, Maschinenbau, Fahrzeugbau und Luft- und Raumfahrttechnik. Angesichts der Ansiedlungen solcher neuen Industrien fiel der Niedergang altindustrieller Branchen kaum ins Gewicht und wurde kaum bemerkt beziehungsweise war zu verschmerzen, in Ingolstadt zum Beispiel bei der Textilindustrie oder das Aus für das traditionsreiche Bahnausbesserungswerk.

Eine nachholende Industrialisierung setzte in Ingolstadt vor allem ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein. Hier konzentrierten sich der Fahrzeugbau mit der bald nach dem Zweiten Weltkrieg aus Sachsen übergesiedelten Auto-Union (später Audi), deren Unternehmensgeschichte, quasi nebenbei, auch dargestellt wird. Mit Hilfe einer aktiven Strukturpolitik im mittelbayrischen Donaugebiet wurde zudem Mineralölverarbeitung angesiedelt, so dass die Untersuchungsregion wohl stärker großindustriell geprägt wurde als das übrige Bayern. Allerdings erfüllte sich der Wunsch nach mehr Diversifizierung der vor allem durch die Automobilproduktion geprägten Region Ingolstadt nicht: Der Mineralölverarbeitung, deren Arbeitsplatzbedarf begrenzt blieb, folgten kaum weitere verarbeitende Industrien.

Die aktive Strukturpolitik unter der langjährigen Vorherrschaft der CSU in Bayern zur ,,Modernisierung unter konservativen Auspizien" (Christoph Kleßmann) machte den Wandel wie zum Beispiel den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft und der damit verbundenen Lebensweisen auch sozial erträglich. Die allgemeine und gerade auch mit Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen verbundene Erosion der traditionellen katholischen Milieus und die Pluralisierung von Lebensweisen vollzogen sich so viel langsamer als in anderen Regionen der Bundesrepublik, und die CSU konnte vom Ausgangspunkt älterer Orientierungsmuster ein eng mit ihr verbundenes bayrisches Sozialmilieu in der sich wandelnden bayrischen Gesellschaft entwickeln. Hier lagen dann auch die Ursachen einer nur vermeintlich erstaunlichen Schwäche der Sozialdemokratie angesichts der Expansion der Arbeitnehmerschaft und auch der Gewerkschaftsorganisationen in der bald überdurchschnittlich industrialisierten Region Ingolstadt. So konnte die SPD nicht von der Wandlung der kleinräumig-agrarisch geprägten zu einer industriell geprägten Region profitieren. Während viele Industriebeschäftigte im Betrieb gewerkschaftlich organisiert werden konnten, blieben sie am Wohnort traditionsverwurzelt und gewissermaßen weiter agrarisch, nicht-industriell und nicht-urban orientiert. Die Sozialdemokraten fanden keinen Zugang zum bayrischen Selbstbewusstsein, nur wenige Sozialdemokraten erreichten die Menschen mit ihren alltäglichen Sorgen, an die Heimatvertriebenen kam man kaum heran und innere Zerstrittenheit wirkte auf das bayrische Wahlvolk unattraktiv. Die Wahlergebnisse in der Region Ingolstadt folgten insgesamt der gesamtbayrischen Entwicklung, differenziert nach dem industriellen Entwicklungsgrad der industrialisierten Kernstadt und der umliegenden Gemeinden. Der Vorsprung der CSU vor der SPD vergrößerte sich Ende der 1960er Jahre nach nur vorübergehenden und begrenzten Erfolgen eher noch, weil die CSU auch bedeutsame Teile der neuen Mittelschichten und Teile der Arbeitnehmerschaft an sich binden konnte, wenn diese den bayrischen Traditionen verbunden geblieben waren.

Allerdings führte die nachholende Industrialisierung und die damit verbundene Dominanz des Fahrzeugbaus zu einer strukturellen Schwäche, die in der Nachkriegsrezession 1968/69 und erneut ab 1973/74 sichtbar wurde und sich auch längerfristig in neuen Arbeitsmarktproblemen zeigte. Der tertiäre Sektor folgte dem produzierenden nur langsam und verspätet, auch boomte insbesondere die Kernstadt Ingolstadt mit den umliegenden Gemeinden, während die angrenzenden Landkreise im mittelbayrischen Donaugebiet vielfach nicht mithalten konnten beziehungsweise noch deutlich agrarisch geprägt blieben. Das mittelbayrische Donaugebiet wurde weniger zum Land von ,,Laptop und Lederhose" sondern eher zur Auto-Region von Schraubenschlüssel und Lederhose.

Die Geschichte der nachholenden Industrialisierung und letztlich erstaunlich traditionsverwurzelten Modernisierung Ingolstadts und seiner Umgebung ist - eher untypisch bei sozial- und strukturgeschichtlichen Untersuchungen - sprachlich außerordentlich gelungen und in einem fast ,,lockeren" Sprachstil vorbildlich lesbar, mit vielleicht einigen Zahlenangaben zu viel.

In seinem Ausblick deutet Thomas Schlemmer an, was der nun zwar industrialisierten, aber recht monostrukturierten Region drohen dürfte: Abzuwarten ist, wie Bayern mit seinen Industriestrukturen und die Region Ingolstadt im Speziellen die nächste Runde des Strukturwandels und die Deindustrialisierung überstehen werden. Es ist nicht auszuschließen, dass nach Kohle, Stahl und Werften zumindest Teile der Automobilindustrie die neue Altindustrie sein werden.

Stefan Goch, Gelsenkirchen


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