Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der ,,Mont Pèlerin Society" (Marktwirtschaftliche Reformpolitik, Bd. 8), Lucius & Lucius Verlag, Stuttgart 2008, 516 S., geb., 59,00 €.
Eine Ideengeschichte des ,,Neoliberalismus" ist ein Desiderat der Forschung. Denn dass sich hinter diesem Begriff weitaus mehr verbirgt als die Ideologie eines unreglementierten ,,Kasino-Kapitalismus", ist zwar unter Wirtschafts- wie Ideenhistorikern Allgemeingut, doch fehlt es an Studien, welche die geschichtlichen Wurzeln und politischen Aufladungen dieses Begriffs systematisch unter die Lupe nehmen und der sprachlichen Verwilderung der gegenwärtigen Debatten mit soliden Argumenten entgegentreten können.
Dieser Aufgabe hat sich Philip Plickert gestellt. Seine umfangreiche, aus einer volkswirtschaftlichen Dissertation bei Joachim Starbatty in Tübingen hervorgegangene Studie stellt eine originäre ideengeschichtliche Forschungsleistung dar, welche zugleich über eine Genealogie wirtschaftswissenschaftlicher Theoriebildung hinausweist. Im Mittelpunkt steht mit der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society (MPS) ein akademisch-intellektueller Zirkel, der sich die offensive Förderung neoliberaler Denkansätze zum Ziel gesetzt hatte. Dieser Untersuchungsgegenstand erlaubt es dem Autor, einzelne theoretische, wissenschaftliche und biografische Stränge zu einer Ideengeschichte des Neoliberalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verdichten. Ideelle Grundlagen, inneres Gefüge und öffentliche Ausstrahlung der MPS werden gleichermaßen berücksichtigt und in vier chronologisch angeordneten Teilen dargestellt.
Dazu zeichnet der erste Teil zunächst ein Panorama liberaler Weltanschauung seit dem 19. Jahrhundert, wobei Krise und Niedergang des ,,klassischen" Liberalismus bis in den Ersten Weltkrieg den Fluchtpunkt bilden. Es sei während der Zwischenkriegszeit kaum mehr gelungen, eine geschlossene und überzeugende Programmatik liberaler Weltanschauung zu formulieren; vielmehr habe besonders die Weltwirtschaftskrise von 1929 eine allgemeine Hinwendung zum Staatsinterventionismus begünstigt, was sich wirtschaftstheoretisch etwa in den Konzepten von John Maynard Keynes niedergeschlagen habe.
Eine liberale Selbstbehauptung fiel demgegenüber schwer. Erst auf dem Pariser Kolloquium zu Ehren von Walter Lippman im Jahr 1938 verabschiedeten sich viele Theoretiker des Liberalismus vom Gedanken eines ökonomischen Laissez-faire und erkannten die Rolle des Staates als Garant eines freiheitlichen Marktes grundsätzlich an. Plickert misst dem Pariser Treffen aber auch deshalb einen entscheidenden Einfluss für die intellektuelle Formation der MPS zu, weil in den wesentlichen Protagonisten eine hohe personelle Kontinuität verbürgt war. Erwähnt seien hier nur die bekanntesten Akteure wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, wobei bereits diese Namen erkennen lassen, dass sich schon in den 1930er Jahren unterschiedliche, späterhin auch konkurrierende Pole innerhalb des Neoliberalismus herausgebildet hatten.
Im zweiten Hauptteil widmet sich Plickert dann der eigentlichen Gründungs- und Institutionalisierungsphase der MPS. Den Anfang machte eine Einladung von Hayek, der zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg führende liberale Wirtschafts-, aber auch Sozialwissenschaftler, Philosophen und Publizisten an den Genfer See einlud, um zu Füßen des Schweizer Höhenzuges Mont Pèlerin über einen erneuerten Liberalismus zu debattieren. Daraus entstand rasch die Idee, eine eigene Organisation zu gründen und dem vermeintlichen vorherrschenden Kollektivismus eine freiheitliche, auf Privateigentum und Wettbewerb gegründete Alternative gegenüberzustellen. Allerdings sollte die MPS weniger an konkreten wirtschaftspolitischen Tagesfragen arbeiten, sondern als ,,diskretes Forum zum intellektuellen Austausch" (S. 155) dienen. Wissenschaftliche Debatten in ökonomischen Grundsatzfragen standen im Vordergrund, was dazu beigetragen haben mag, dass der Aufbau der MPS zunächst nur schleppend voranging. Als es zum Ende der 1950er Jahre überdies noch zu bitteren inneren Zerwürfnissen kam, die nach Plickert im unberechenbaren Verhalten des umtriebigen Geschäftsführers Albert Hunold wurzelten, schien die Gesellschaft sogar kurz vor der Spaltung. Vor allem die Protagonisten des westdeutschen Ordoliberalismus, darunter Röpke und Rüstow, zogen sich zurück; aber auch darüber hinaus verschoben sich die Gewichte innerhalb der MPS zugunsten eines eher angelsächsisch geprägten Verständnisses des Neoliberalismus.
Die realen Chancen einer neoliberal geprägten Wirtschaftspolitik in den 1950er und 1960er Jahren stehen im Mittelpunkt des dritten Teils. Während Plickert zunächst die wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Positionen der MPS weiter aufschlüsselt, nimmt er anschließend die tatsächliche Wirtschaftspolitik in den fünf wichtigsten Industrienationen des Westens in den Blick. Dabei wird deutlich, wie weit die neoliberale Programmatik der MPS von den konkreten politischen Gegebenheiten in Frankreich und Italien, aber auch und gerade in Großbritannien und den USA entfernt war. Der wohlfahrtsstaatlich-keynesianische Konsens war in diesen Ländern noch geraume Zeit nach Kriegsende weithin unangefochten. Einzig in der Bundesrepublik Deutschland sei eine in ihren Grundzügen liberale Ordnungspolitik durchgesetzt worden, so Plickert, da hier jede Form des Staatsinterventionismus durch den volkswirtschaftlichen Dirigismus des NS-Staates, aber auch durch die planwirtschaftlichen Ansätze der DDR als diskreditiert galten. Dazu wird auf die intensiven Verbindungen der MPS zur ,,Freiburger Schule" hingewiesen, was wesentlich zur Vermittlung neoliberalen Denkens in Westdeutschland beigetragen habe. Etwas bemüht wirkt in diesem Zusammenhang allerdings das von Plickert erstellte ,,,Sündenregister' der sozialen Marktwirtschaft" (S. 276-279), welches vor allem die Rentenreform von 1957 als Abweichung von der reinen ordoliberalen Lehre behandelt.
Der vierte Teil diskutiert schließlich die in den 1970er Jahren einsetzenden Umschwünge in der Wirtschaftspolitik der westlichen Nationen. Während der Ordoliberalismus in der Bundesrepublik immer mehr an Boden verlor, kam es unter Margaret Thatcher in Großbritannien (seit 1979) und unter Ronald Reagan in den USA (seit 1981) zu einem Durchbruch neoliberal geprägter Ordnungspolitik. Diese ,,ideologische Gezeitenwende" (S. 389) hatte sich bereits zur Mitte der 1970er Jahre auf dem akademischen Feld angekündigt, als zwei zentrale Ökonomen der MPS - Hayek und Milton Friedman - den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten. In der Tat spielten die Theoretiker der MPS, wie Plickert nachzeichnet, bei der Neuausrichtung der britischen und US-amerikanischen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle. Zugleich lässt sich aber kaum vorbehaltlos von einem Siegeszug des Neoliberalismus reden, denn vielen Mitgliedern der MPS gingen die Reformen längst nicht weit genug Wie sich auch kaum ein Konsens darüber herstellen ließ, wie eine neoliberale Marktordnung denn in der Realität aussehen solle. Im Ergebnis ist Plickert daher skeptisch, ob man die angelsächsische Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre oder auch die Marktdynamik der Globalisierung in den 1990er Jahren als neoliberalen Durchbruch bezeichnen könne und inwieweit sich dieser gar der MPS zuschreiben ließe.
Im Ganzen behandelt Plickert seinen Gegenstand durchaus mit Sympathie und deutet auf diesem Weg seine eigenen ordnungspolitischen Präferenzen an; es ist kein Zufall, dass der Betreuer der Dissertation als Vorsitzender der ,,Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft" amtiert, welche zudem den Druck der Arbeit subventioniert hat. Doch dieser Hintergrund spricht nicht gegen die Durchführung der Untersuchung, welche eine gelungene Synthese zwischen einer Ideengeschichte des Liberalismus, einer Geschichte ökonomischer Theoriebildung und einer Geschichte intellektueller Assoziierungsformen darstellt. Methodisch in konventionellen Bahnen angelegt, überzeugt die Studie gleichwohl durch eine instruktive Verknüpfung unterschiedlicher Betrachtungsebenen und verschiedener Quellengattungen. Historiker werden freilich ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und der konsultierten Archive vermissen; sie bleiben auf die Angaben in den Fußnoten verwiesen. Unverständlich ist allerdings, warum auf ein Personenverzeichnis verzichtet wurde.
Marcus M. Payk, Universität Stuttgart