ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Im Gegensatz zum vorwiegend historischen Ansatz in den neueren Forschungen über Erinnerungskulturen bieten die beiden vorzustellenden Bücher, ,,Archive der Erinnerung" und ,,Erinnern des Holocaust?", einen Einblick in aktuelle Debatten zur Erinnerung an den Holocaust aus literaturwissenschaftlicher, philosophischer, sozialpsychologischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Im Hinblick auf den zeitlichen Abstand zum Ereignis werfen die Autoren Fragen zur ethischen Bedeutung der Zeugenschaft, zu deren Funktion als Träger der intergenerationellen Vermittlung und, daran anknüpfend, zu gegenwärtigen Möglichkeiten der Erziehung über den Holocaust auf.

Während Historiker wie Annette Wieviorka Zeugenaussagen als unzuverlässige Quellen auffassen, die die Erkenntnis historischer Faktizität verhindern, verteidigt Silke Segler-Messner in ihrer 2004 angenommenen Habilitationsschrift die literarische Zeugenschaft als Garant der Erinnerung an ein Ereignis, das mangels Dokumentation zur ethischen Aufgabe erhoben werden muss, für die sowohl Autoren als auch Leser verantwortlich sind: ,,In imaginärer Stellvertretung des Überlebenden wird somit der Leser zum Zeugen des schmerzlichen Prozesses der Wiedererinnerung, in dem das Gewesene erneut vergegenwärtigt wird" (S. 24). Ferner untersucht Segler-Messner Motive der literarischen Zeugenschaft, die sie als ,,Wunsch, das Unglaubliche zu bezeugen", ,,das Gedenken der Toten" und die ,,Sinngebung eines Leidens" (S. 125) zusammenfasst. Am stärksten jedoch unterstreicht die Autorin die emanzipatorische Funktion der Zeugenschaft. Motiviert werde manche Berichterstattung von Deportierten nicht, ,,um anderen von dem Grauen zu berichten, sondern um sich selbst von dem Trauma zu befreien" (S. 126). Der Schriftsteller Jean Cayrol z.B. strebte weder Wahrheit noch Aufklärung noch den ,,antifaschistischen Kampf" an, sondern die ethisch bedingte ,,heilende Kraft der Worte" (S. 127), das heißt, die ,,Möglichkeit, die Kommunikation als Basis sozialen Miteinanders wiederherzustellen" (ebd.). Die Metapher des gesunden Zeugens steht hier explizit für eine utopische Überwindung der Grenzen zwischen Körper und Text. Denn Zeugenschaft und Text nach dem Holocaust, im Sinne von Wissen um, Anerkennen und Weitergeben von Begebenheiten aus der Vergangenheit an Menschen, die diese nicht erlebt beziehungsweise erkannt haben, setzt eine Fortschreibung der Erlebnisse von toten beziehungsweise ,,zerstückelten" (ebd.) Körpern voraus, deren Erinnerungen vermittelt durch Zeugenschaft zum Sprechen gebracht werden können (etymologisch stammt z.B. das englische Wort ,,witness" von ,,witan" - ,,wissen").

Am Beispiel der ersten Generation der aus politischen Gründen Deportierten, darunter Germaine Tillon und Charlotte Delbo, führt die Autorin ihre ethische Auffassung von literarischer Zeugenschaft aus, die weder eine kathartische Funktion noch die Wiederherstellung früheren Lebens vor dem Holocaust anstrebt, sondern eine sowohl existenziell als auch politisch notwendige Funktion erfüllt, um ,,das Erlebte in die Gesamtheit der bis dahin gesammelten Erfahrungen integrieren zu können" (S. 149) und dadurch ,,der Leserin die Möglichkeit zu geben, den Transport und die Zeit im Lager aus der Sicht der deportierten Frauen zu erleben, sich ihrer Perspektive zu eigen zu machen" (S. 186). Die begleitende Ausführung über den vom Philosophen Emmanuel Lévinas vertretenen Subjektbegriff bereichert zudem das Verständnis des durch die Zeugenschaft geförderten Kommunikationsprozesses, ,,in dem sich das Schicksal der Einzelnen mit dem kollektiven nous und dem individuellen je zu vermischen droht" (S. 204). Durch die philosophische Einbettung dieser Schriften in den historischen Kontext des Holocaust erhebt Segler-Messner die Zeugenschaft zur literarischen Darstellungsform schlechthin.

Dieses Buch bietet neben Studien über literarische Klassiker der ,,ersten Generation" der politisch Deportierten (Teil 4) eine historische Einführung in Theorien der literarischen Zeugenschaft und in die ideologischen Grundlagen der ,,jüdischen Frage" (Teil 1 bis 3) sowie einen Einblick in die literarischen Zeugnisse der ,,zweiten Generation" (Teil 5), die mangels eigenen Erlebnissen und angesichts andauernder Leere und Abwesenheit die Literatur als ,,Medium der Trauerarbeit" (S. 285) aufgriff. Obwohl der Zusammenhang zwischen diesen drei Schwerpunkten nicht stark genug hervorgehoben wird, vertritt die Autorin konsequent die These, dass Literatur nicht nur ein mögliches, sondern ein notwendiges Medium der Trauerarbeit ist. Denn während die erste Generation, ,,der Fiktion bedürfte, um die notwendige Distanz zwischen den traumatischen Erlebnissen und sich selbst herzustellen, können die Nachkommen nur Kraft der Imagination an einer Vergangenheit teilhaben, von der sie per se ausgeschlossen sind" (S. 301).

Generationen einer anderen Art greifen die Autoren im Sammelband ,,Erinnern des Holocaust?" auf, der sich in drei Teilen der inoffiziellen (durch Familien tradierten), der offiziellen (durch Gedenkstätten und Massenmedien gepflegten) und der literarischen Tradierung von Erinnerungen an den Holocaust widmet. Aus sozialpsychologischer Sicht stellt Gabriele Rosenthal fest, ,,die Folgen der Vergangenheit werden in der Abfolge der Generationen nicht etwa schwächer, sondern sie werden in der dritten Generation sichtbarer" (S. 43f.). Konkrete Folgen dieser Vergangenheit sind z.B. ein Esszwang unter Enkelkindern von Überlebenden als Kompensation für die großelterliche Furcht vor dem Hungertod im Lager. Vergleichsweise herrscht in den Familien von ehemaligen Tätern nicht, wie oft angenommen, das Schweigen, sondern das Abstreiten von Täter- und Zeugenschaft vor, die Erörterung des eigenen Leidens (unter Gefangenschaft, Flucht, Vertreibung oder Bombenangriffen), ,,während über das Leid der anderen geschwiegen wird" (S. 36). Im Unterschied zur zweiten Generation, die sich ,,vor einer Nähe zur Familienvergangenheit schützt" (S. 44), macht die größere Dialogbereitschaft der dritten Generation zwar Hoffnung auf die Aufhebung eines häufig von Tätern vertretenen Rechtfertigungs- und Verleugnungsdialogs, kann aber ebenfalls zu einer ,,weiteren Verletzung der Nachgeborenen" (ebd.) führen.

Einen ähnlichen Ansatz haben die weiteren Beiträge von Harald Welzer und Nina Leonhard. Welzer greift auf Gespräche mit deutschen Familien aus den 1990er Jahren zurück und knüpft an Zygmunt Baumans Kritik der Vernunftideologie an, um die ethische und politische Unwirksamkeit von Geschichtsaufklärung und vor allem vom historischen Unterricht zum Nationalsozialismus zu behaupten. Da junge Leute trotz historischen Lernens mehrheitlich die positive Einstellung ihrer Großeltern zum Nationalsozialismus nicht anerkennen beziehungsweise leugnen, kommt Welzer zu dem Schluss, dass Fakten über das Geschehen allein nicht ausreichen, um ein wirksames ethisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen, denn ,,die emotionale Dimension von Vergangenheitsvorstellungen, wie sie an anderen Stellen als dem Geschichtsunterricht erzeugt wird, scheint mir in der Geschichtspädagogik und -didaktik stark unterschätzt zu werden" (S. 59). Als Lösung dieses Problems schlägt Welzer Folgendes vor: Statt negativer historischer Vorbilder sollten Lehrer nicht-normative ,,positive Identifikationsangebote" (S. 60) im Unterricht anbieten, den Blick auf die Zeit vor und nach dem Holocaust erweitern und auf andere Völkermorde lenken, um so vor allem anhand von konkreten Biographien aus der Vergangenheit Einblick in die komplexen Handlungs- und Spielräume zu geben, die zum Holocaust geführt haben.

Während Leonhard ebenfalls die vermeintliche Kluft zwischen öffentlichen und privaten Erinnerungserzählungen über den Nationalsozialismus aufgreift, stellt sie, ganz im Gegensatz zu Welzer, anhand von Gesprächen mit zwölf Familien fest, dass Familien nicht primär das Geschichtsbewusstsein prägen, sondern, dass sie als ,,Filter" beziehungsweise Interpretationsparadigmen für Kenntnisse und Bedeutungen wirken, die in der Öffentlichkeit außerhalb der Familie gewonnen werden. Anstatt, wie Welzer, als Ratgeber zu schreiben, fordert Leonhard dazu auf, im Sinne von Maurice Halbwachs die überlappenden Erinnerungskontexte zusammenzudenken.

Mit Verweis auf die offizielle Erinnerungskultur schildert Hans-Ulrich Thamer chronologisch die Phasen der ,,Mythisierung", ,,Tabuisierung", ,,Tribunalisierung" und ,,Historisierung" der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Jenseits dieser Beschreibung von aufeinander folgenden ,,Phasen" der Erinnerungskultur und deren linearen Entwicklung, muss man sich jedoch fragen, ob diese verschiedenen Deutungen der Vergangenheit sich (in Wirklichkeit) nicht eher in institutionell verankerten Interessengruppen (be)gründen. Sowohl die ,,zweite Verdrängung" (S. 89), derzufolge die Geschichte auf Widerstand (in der DDR) und auf wirtschaftliche Faktoren (in der BRD) beschränkt wurde, als auch die Anonymisierung der Akteure in den 1960er und 1970er Jahren oder gar die ,,universelle[n], globalgültige[n], moralische[n] Standards" (S. 92), mit der politisch gesteuerte Wertemaßstäbe im Namen der Menschenrechte mit Bezug auf den Holocaust heute erhoben werden, sind Folgen von politischen Interessen, die Thamer zum Teil gut erklärt.

Angesichts der Unklarheit, worin ein globales beziehungsweise universelles Erinnern an den Holocaust heute besteht und wie es zustande gekommen sei, sind die Beiträge von Norbert Nowotsch über Techniken der Ausstellungsgestaltung und von Cornelia Blasberg zur ,,Rolle der Literatur im Prozeß der Aneignung und Interpretation der Vergangenheit" (S. 169) aufschlussreich. Zweifelsohne, argumentiert Blasberg, gewinnt das Erbe des Nationalsozialismus in einer von ,,Identitätsproblemen" geprägten globalisierten Welt eine identitätsstiftende Funktion, indem es ,,im Verhältnis zum Druck der alltäglichen Identitätsarbeit geradezu wie eine Entlastung wirkt" (S. 183). Hier deutet die Autorin auf eine Zeit hin, in der nicht Belastung, sondern ,,präzises historisches Wissen und ethische Verantwortung" (S. 186) das Erinnern an den Holocaust prägen wird.

Das Vorwort zu diesem Band bettet die Beiträge explizit in die neuen Debatten zur moralischen und universellen Aneignung des Holocaust ein. Umso verwirrender sind daher an manchen Stellen die begrifflichen Übergänge von ,,deutschen" zu ,,universellen" Kontexten des Erinnerns beziehungsweise vom ,,Nationalsozialismus" zum ,,Holocaust". Trotzdem haben die Stellungnahmen am Ende dieses Bands zum ,,ethischen Training", ,,zukünftigen Erinnern" und zum Schulunterricht, die für einen medienkritischen Umgang mit Bildern des Holocaust und für ein ethisches Erinnern ,,zur Selbstbestimmung und zum Nicht-Mitmachen" (S. 231) plädieren, auch außerhalb Deutschlands Gültigkeit.

Peter Carrier, Braunschweig/Berlin


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 23. November 2009