ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Il'ja Al'tman, Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941-1945 (Zur Kritik der Geschichtsschreibung, Bd. 11), Muster-Schmidt Verlag, Gleichen 2008, 588 S., brosch., 58,00 €.

Diese bereits 2002 auf Russisch unter dem Titel ,,Zhertvy nenavisti. Kholokost v SSSR 1941-1945" veröffentlichte Studie liegt infolge der Unterstützung des Vereins für Geschichte des Weltsystems und seines Vorsitzenden Hans-Heinrich Nolte jetzt auch in deutscher Übersetzung vor. Schon in dem von Professor Nolte verfassten Vorwort wird für die Studie der Anspruch erhoben, eine ,,Gesamtdarstellung des Holocaust auf dem damaligen Territorium der UdSSR" zu sein und sogar ,,die erste Darstellung des Massenmordes an den Juden in den vom Deutschen Reich 1941 bis 1945 besetzten Gebieten der damaligen UdSSR, welche auf einer angemessenen Quellenbasis beruht" (S. 10). Wenngleich keine Bestände aus deutschen Archiven benutzt wurden, ist die Quellengrundlage zweifellsfrei beeindruckend: Bestände aus 23 zentralen und regionalen Archiven in Russland, der Ukraine, Weißrussland, Lettland, den USA, Israel und Belgien wurden verwendet (S. 35). Außerdem wurden in den Archiven und Bibliotheken der ehemaligen sowjetischen Staaten etwa 400 der in den besetzten Gebieten herausgegebenen Zeitungen erfasst (S. 37) und dabei etwa 6.000 Artikel mit antisemitischem Inhalt entdeckt (S. 76 und 541).

Die Arbeit ist in fünf thematisch gegliederte Hauptkapitel aufgeteilt und zwar zum NS-Besatzungsregime in der UdSSR und den sowjetischen Juden (S. 41-93), zu den Ghettos auf dem Gebiet der UdSSR (S. 95-235), zu Planung und Verlauf des Holocausts an den sowjetischen Juden (S. 237-368), zum Widerstand (S. 369-444) und zu den verschiedenen Reaktionen in der sowjetischen Gesellschaft auf die Judenvernichtung (S. 445-537). Hinzu kommen Einführung (S. 15-40) und Schlusswort (S. 539-548) sowie das eingangs erwähnte Vorwort von Hans-Heinrich Nolte (S. 7-14). Gerade weil die ,,Ausgangsthese" des Buchs lautet, dass ,,die sowjetischen Juden im chronologischen Ablauf als die ersten Opfer der Massenvernichtung der europäischen Juden bezeichnet werden können" (S. 38), stechen die unterlassene Einordnung der Geschehnisse in der Sowjetunion in den Gesamtzusammenhang der NS-Judenpolitik und die fehlende Berücksichtigung der Befehlsgewalt und der Wechselwirkung von Zentrum und Peripherie beim Judenmord sowie der Entwicklungen, die zum Genozid an den sowjetischen Juden führten, besonders ins Auge und bilden zwei der Hauptschwächen dieser Studie.

Dagegen ist es dem Autor durchaus gelungen, die Zahl und Art der Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager auf sowjetischem Territorium akribisch und umfassend aufzuzählen, das Leben im Ghetto eindrucksvoll zu beschreiben und die einzelnen Massenexekutionen ausführlich aufzulisten. Dabei kann er neue Forschungsergebnisse präsentieren. Zum Beispiel erfährt der Leser im zweiten Kapitel, dass die Deutschen und ihre Verbündeten in den besetzten sowjetischen Gebieten der UdSSR insgesamt 822 Ghettos errichteten, die Al'tman sowohl nach Besatzungszone als auch nach ehemaliger Sowjetrepublik aufteilt. Über die Hälfte davon befanden sich in der Ukraine (S. 113, 131 sowie Tabelle Nr. 2). Al'tman kann zudem im dritten Kapitel ermitteln, dass insgesamt 2.805.000 bis 2.838.000 Juden, die auf dem Territorium der UdSSR in den Grenzen vom 22. Juni 1941 gelebt hatten, im Holocaust umkamen (S. 367 und Tabelle Nr. 8). Dieses Ergebnis ist an sich freilich nicht neu. Schon 1991 kam Gert Robel unter Einbeziehung der 1939 zu Polen und Rumänien gehörenden Gebiete sowie der baltischen Staaten zu einem sehr ähnlichen Befund. (1) Dieser Aufsatz wird von Al'tman jedoch nicht berücksichtigt. Seine Darstellung zeichnet sich hingegen vielmehr durch die umfassende Genauigkeit aus, mit der die einzelnen Massenexekutionen und Opferzahlen aufgelistet werden. Auch hier teilt der Autor die Opfer nach Republiken, aber auch nach dem Zeitpunkt ihrer Ermordung auf. Danach war mindestens die Hälfte aller ermordeten sowjetischen Juden Bürger der Ukraine (1.430.000), wovon 860.000 zwischen Februar 1942 und Oktober 1943 umgebracht wurden (S. 361 und 367). Der Vernichtung ging die systematische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen und ihren Komplizen voraus. Ohne dies zu berücksichtigen, können dem Autor zufolge die Schwierigkeiten des Überlebens der Ghettobewohner nicht begriffen werden (S. 164). Unter Einbeziehung der verlorenen Immobilien soll der Wert des beschlagnahmten und geplünderten jüdischen Besitzes mehrere Hundert Millionen, wenn nicht gar einige Milliarden Reichsmark betragen haben (S. 184).

Obwohl Al'tman schon in der Einführung zu Recht feststellt, dass Informationen über das Schicksal der jüdischen Kriegsgefangenen von ,,besonderer Bedeutung" seien (S. 37), liefert er lediglich eine zweiseitige Zusammenfassung dieses ungenügend erforschten Themas (S. 364ff.), das ein Desiderat der Forschung bleibt. Demgegenüber ist es einer der größten Verdienste der Arbeit, dass Al'tman den verhältnismäßig wenig untersuchten Geschehnissen in den besetzten Gebieten Russlands besondere Aufmerksamkeit widmet (S. 29, 33, 38, 95, 146, 434, 537 und 547) und dabei in vielen Fällen bisherige Forschungsergebnisse korrigieren kann, zum Beispiel bezüglich der Zahl der Ghettos auf dem Territorium Russlands (S. 128).

Das vierte Kapitel zum Widerstand zeigt deutlich, dass die allgemeine Einstellung der jüdischen Bevölkerung zu ihrem Schicksal ,,keinesfalls eine passive war" (S. 382), wie oft angenommen wird. Beispielsweise führt der Autor zahlreiche Fälle von Fluchtversuchen auf (S. 374-380). Zudem hatten die meisten in Weißrussland operierenden Partisanenabteilungen 1943 und 1944 jüdische Mitglieder und in der Ukraine kämpften Juden in allen größeren Partisanenverbänden (S. 420-421). Die Gesamtzahl der jüdischen Partisanen in der Ukraine betrug mindestens 5.000, während nicht weniger als 10.350 Juden in den Partisaneneinheiten Weißrusslands dienten (S. 443). Für Tausende von Insassen der Ghettos oder Arbeitslager schien die Flucht zu den Partisanen ,,der einzige Rettungsweg" zu sein (S. 442).

Vielleicht das stärkste Kapitel ist das fünfte, in dem es um die Reaktion der einheimischen Gesellschaft auf die Judenvernichtung geht. Al'tman untersucht das Verhalten der Sowjetregierung, der Partisanen, der Roten Armee, der Kirchen und der sowjetischen Zivilbevölkerung angesichts des Massenmords. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass für die sowjetischen Behörden die Rettung der Juden ,,bestenfalls ein Nebenaspekt" war. Weder Sonderoperationen noch Sonderbefehle für Partisanen und Untergrundkämpfer, den Juden zu helfen, habe es gegeben (S. 493), obwohl die sowjetische Führung schon Mitte August 1941 über genaue Informationen zur Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung verfügte (S. 460). Auch nach Kriegsende durfte in keiner Republikhauptstadt oder Großstadt, mit Ausnahme von Minsk, ein Denkmal mit jiddischer Inschrift und direkter Benennung der jüdischen Opfer errichtet werden. Auf Anordnung der Behörden wurden die jüdischen Gemeinden Ende der 1940er Jahre sogar gezwungen, selbst bereits bestehende Monumente umzugestalten (S. 490). Das Verhalten der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Juden war sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite war die Erpressung von Juden, um sich ihren Besitz anzueignen, und die anschließende Auslieferung an die Besatzungsbehörden ,,alles andere als ein Einzelfall" (S. 513). Auf der anderen Seite bringt Al'tman etliche Beispiele wie nichtjüdische Bürger mindestens ihre Freiheit und noch häufiger ihr Leben riskierten, indem sie ihnen oft unbekannten Juden zur Hilfe kamen (S. 517-535).

Als Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Vernichtung der auf sowjetischem Territorium lebenden Juden weist die Studie von Il'ja Al'tman hinsichtlich des Aufbaus und der Abdeckung der wichtigsten Aspekte einige große Mängel auf. Hinzu kommen mehrere inhaltliche Fehler. (2) Dennoch ist die Arbeit wegen der schieren Fülle an statistischen Informationen über den gesamten vom Deutschen Reich besetzten Teil der UdSSR von erheblichem Wert. Aus diesen Gründen empfiehlt der Rezensent dem Leser, die vorliegende Studie vor allem als Nachschlagewerk zu verwenden. In seinem Schlusswort plädiert Al'tman dafür, die Geschichte des Holocausts ,,nicht auf das Leiden und den Tod von Millionen Menschen" zu reduzieren (S. 547). Durch den breiten Raum, den er nicht nur den Massakern, sondern auch dem Widerstand aller Art und den Flucht- beziehungsweise Rettungsversuchen schenkt, ist ihm dies zweifelsohne gelungen.

Alex J. Kay, Berlin

Fußnoten:


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