ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniel Siemens, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, Siedler Verlag, München 2009, 352 S., geb., 19,95 €.

,,Wo Blut fließt, da finden Neid und Zwietracht verschlossene Türen" - mit diesen Worten wandte sich der Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels 1930 an seine Parteigenossen - auf einer Schellackplatte, die dem kurz zuvor getöteten SA-Sturmführer Horst Wessel gewidmet war. Auch dessen Lied ,,Die Fahne hoch" war erstmals auf dieser Platte veröffentlicht worden und entwickelte sich seitdem zur inoffiziellen Parteihymne der NSDAP. Goebbels wusste um die Bedeutung von ,,Blutopfern" und ,,Märtyrern" für den Zusammenhalt der nationalsozialistischen Bewegung, deren Vergemeinschaftung nicht zuletzt auf ausgeübte Gewalt und Gegengewalt gründete. Auch deshalb trieb der Heldenkult der Nationalsozialisten um Horst Wessel, der mit dem real existierenden Wessel kaum etwas gemein hatte, so abstruse Blüten.

Das vorliegende Buch des Bielefelder Historikers Daniel Siemens bietet jedoch mehr als eine scharfsinnige Analyse des Wessel-Kults. Es rekonstruiert darüber hinaus die Biografie des 1907 geborenen Sohns eines völkisch-nationalistischen Pfarrers und Studenten der Rechtswissenschaften, der als Angehöriger der ,,Kriegsjugendgeneration" nicht zufällig seinen Weg zu den Nationalsozialisten fand, sondern dies wohl eher als Vermächtnis des 1922 verstorbenen Vaters und Sendung seiner Generation begriff. Bei dieser biografischen Rekonstruktion konnte sich Siemens auf eine bemerkenswerte Quelle stützen: eine von Wessel 1929 verfasste, 70-seitige Autobiografie, die einerseits viel über die politische Selbststilisierung Wessels verrät, es aber auch erlaubt, das NS-Propagandabild Wessels zu dekonstruieren, der sich im Straßenkampf der SA keineswegs an vorderster Front betätigte und kurz vor seinem Tod eine gewisse Distanz zur ,,Bewegung" erkennen ließ, nachdem sein Bruder Werner Ende 1929 bei einer Winterwanderung der Nationalsozialisten umgekommen war.

War der Tod Wessels Anfang 1930 ein politisch motivierter Auftragsmord der Kommunisten oder Ergebnis letztlich privater Auseinandersetzungen? Siemens kann diese Frage auf der Basis der verfügbaren Quellen nicht mit letzter Sicherheit beantworten, legt aber eine Verschränkung politischer und privater Motive nahe, die schließlich dazu führte, dass eine ursprünglich geplante ,,proletarische Abreibung" für Wessel zum Mord eskalierte. Nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die Kommunisten waren daran interessiert, eine politisch genehme Version der Ereignisse zu verbreiten. So stellte die KPD den Mord zunächst als private Auseinandersetzung im Zuhältermilieu dar, nahm jedoch gleichzeitig den Todesschützen, den KPD-Sympathisanten und Zuhälter Albrecht ,,Ali" Höhler, in ihre Obhut und expedierte ihn über die ,grüne Grenze' in die Tschechoslowakei. Als Höhler sich als unkalkulierbar erwies und eigenmächtig wieder nach Berlin zurückkehrte, denunzierten ihn die Kommunisten bei der Polizei, stellten ihm jedoch Strafverteidiger zur Seite, die vor Gericht nun die Version einer ausschließlich politischen Auseinandersetzung vertraten, um propagandistisch ,,Klassenjustiz" anprangern zu können. Es gehört zu den besonderen Vorzügen des vorliegenden Buches, solche abstrusen Verzerrungen der Realität auf allen Seiten kritisch zu dekonstruieren und den wahren Kern der Ereignisse offenzulegen. Zugleich liest es sich wie eine Parabel auf den öffentlichen Gebrauch von Geschichtsbildern und ihre Funktion in der politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung.

Vieles von dem, was Siemens über die Funktionalisierung Wessels in der NS-Zeit berichtet, ist nicht vollständig neu. Wenig war jedoch bislang über die justizielle und polizeiliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen bekannt. Obwohl die Täter in einem ersten Prozess 1930 zu bemerkenswert harten Strafen verurteilt worden waren, nahmen die Nationalsozialisten an ihnen nach 1933 blutige Rache. Von den 16 rechtskräftig Verurteilten starben acht eines unnatürlichen Todes. Der Todesschütze Höhler wurde im September 1933 aus dem Zuchthaus in ein Waldstück nahe Berlin verbracht und dort erschossen - in Anwesenheit des damaligen Gestapo-Chefs Rudolf Diels und des Prinzen August Wilhelm von Preußen. Dass bei solchen ,,Auskämmaktionen" Gestapo, SA und SS eng zusammenarbeiteten und die ,wilden' Morde durch Einstellung jeglicher Ermittlungen gedeckt wurden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verluderung von Recht und Gesetz unter nationalsozialistischer Herrschaft. In dieses Bild passt auch, dass 1934 drei vollständig randständige Figuren des Wessel-Mordes in einem zweiten Prozess vor Gericht gestellt und in zwei Fällen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem ,,Justizmord".

Dass alle Tatbeteiligten an den ,wilden' Morden nach 1945 straffrei ausgingen, illustriert nicht zuletzt die weit reichende soziale Integrationsbereitschaft gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten. Welche moralischen Kosten damit verbunden waren, führt Siemens dem Leser schonungslos und durchaus con ira et studio vor Augen: So stand einer der Mörder Höhlers seit den 1950er Jahren im Dienst des Auswärtigen Amtes und arbeitete u.a. für das deutsche Generalkonsulat in New York. Er blieb ebenso unbehelligt wie ein weiterer Mordschütze, der später als SS- und Polizeiführer in Litzmannstadt unmittelbar in den Holocaust verwickelt war. Die Schwester und Mutter Horst Wessels, die das Andenken an ihren ermordeten Bruder beziehungsweise Sohn geschäftstüchtig zu eigenen Gunsten vermarktet hatten, wurden nach 1945 u.a. von der evangelischen Kirche unterstützt. Die Schwester Wessels leitete nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kinderheim auf Norderney, das 1936 ,,arisiert" worden war, und die Mutter, die sich in ungebrochener Chuzpe zum Opfer stilisierte, durfte sich über die mildtätige Unterstützung der Kirche und erhebliche Summen aus dem Lastenausgleich freuen.

Fazit: Das Buch von Daniel Siemens dekonstruiert den ,,Fall Wessel" auf vielfältige Weise und eröffnet an dessen Beispiel immer wieder hellsichtige analytische Perspektiven auf die Funktionalisierung von Geschichtsbildern, die Charakteristika des NS-Herrschaftssystems oder die Integrationsbereitschaft gegenüber NS-Tätern in der Nachkriegszeit. Überdies ist positiv hervorzuheben, dass der Autor einen verquasten Fachjargon meidet und das Buch in einem erzählenden Stil verfasst hat, der zugleich analytisch und argumentativ überzeugt.

Frank Bajohr, Hamburg


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