ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ariane Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 7), Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 459 S., geb., 42,00.

Die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen, nach Transformationsphasen und Beharrungskräften sowie ihren angemessenen Datierungen beschäftigt die deutsche Zeitgeschichtsforschung derzeit stark. Dass nur die politische Geschichte die Strukturierung des 20. Jahrhunderts vorzugeben vermöge, ist bereits seit geraumer Zeit kritisch hinterfragt, vielleicht gar als Erklärungsmuster suspendiert worden. Insbesondere der vermeintliche Bruch ,,1945" ist längst durch andere Deutungsmuster abgelöst worden, die - wie ,,Liberalisierung als Lernprozess" (Herbert) oder ,,Westernisierung" (Doering-Manteuffel) von längerfristigen Transformationsphasen nach 1945 ausgehen. Diese Beschreibungsmodi nimmt Ariane Leendertz in ihrer Tübinger Dissertation auf und differenziert sie anhand ihres konkreten Untersuchungsgegenstandes, der deutschen Raumplanung. Hier könne erst in der Phase zwischen 1965 und 1980 von einer Umorientierung gesprochen werden, die dazu geführt habe, dass sich die Raumplanung schließlich von ihrem Anspruch verabschiedete, ,,sämtliche Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft vom Räumlichen her lösen zu können" (S. 399). Leendertz untersucht die deutsche Raumplanung eingebettet in eine Geschichte der deutschen Gesellschaft der ,klassischen Moderne' zwischen der Weimarer Republik bis in die Zeit des Ölpreisschocks Mitte der 1970er Jahre. Dabei geht es ihr nicht um konkrete Planungen, sondern darum, ,,Raumplanung ,im Großen` zu erfassen: als ,Projekt` in der modernen Industriegesellschaft und als ,Idee`" (S. 13).

Das Projekt ,,Raumplanung" als Institutionengeschichte beschreibt Leendertz im narrativen Bogen von der ,,Formierung 1880-1935" über die ,,Etablierung 1935-1945" und ,,Neuorientierung 1945-1960" bis zum ,,Aufstieg 1960-1980", der schließlich im ,,Ende der Illusionen" endet.

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg bündelten sich verschiedene Traditionsbestände wie Stadt- und Kulturkritik, die Siedlungsbewegung und die Professionalisierung der Kommunalbeamten zur ,,Landesplanung", die sich in der Weimarer Republik als Zusammenschluss dieser Beamten in Großstädten und Ballungszentren zu etablieren begann. Zunächst war es noch der Versuch, über freiwillige Zusammenschlüsse ganze Regionen gleichsam von oben, im ,,Fliegerblick", und mit Plänen in den Blick zu nehmen und Entwicklungsspielräume zu sichern. Die Weltwirtschaftskrise bildete den Ausgangspunkt für eine umfassendere Perspektive. Nun begannen die Landesplaner, ihren Interventionsbereich auf die ländlichen Gebiete auszuweiten und damit, so versprachen sie, gesamtgesellschaftliche Probleme lösen zu können. Die Raumordnung, wie sie nun hieß, bot sich als Mittel an, ,,strukturelle Mängel der gesamten Siedlungs- und Wirtschaftsordnung" zu betrachten (S. 91). Mit dem Beginn der NS-Herrschaft bekamen auch die Raumordner einen Institutionalisierungsschub. Zwar waren es schließlich nicht die reinen raumplanerischen Institutionen, die Reichsstelle für Raumordnung (RfR) und die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumordnung (RAG), die ihren maßgeblichen Einfluss im ,Osten' entfalteten. Doch gelang es den Protagonisten der jungen Regierungstechnik, allen voran dem Raumforscher Konrad Meyer, in die verschiedenen Fassungen des ,,Generalplans Ost" die Sichtweise der Raumplaner einzuschreiben. Die Entgrenzung des Planungsraums im Zweiten Weltkrieg sowie die daraus resultierenden, menschenverachtenden Planungen wirkten trotz allem, so Leendertz, als ,,Innovationsmotor für die Entwicklung von raumplanerischen Konzepten" (S. 143). Institutionell erholten sich die Raumplaner recht rasch vom Zusammenbruch des NS-Regimes. Zwar wurden ihre zentralen Institutionen aufgelöst, doch bereits kurz nach der Gründung der Bundesrepublik verfügten sie wieder über derer zwei: das Institut für Raumforschung in Bad Godesberg und die Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover. Alle Protagonisten der NS-Raumplanung kamen in der Bundesrepublik unter, auch wenn es für Konrad Meyer bis 1956 dauern sollte, erneut einen universitären Lehrstuhl zu erhalten. Anfang der 1960er Jahre gelang es der Raumordnung, sich als das richtige Instrument ins Gespräch zu bringen, um die Probleme der Ballungsräume zu lösen, einen wirtschaftlichen Ausgleich über die Fläche der Bundesrepublik zu befördern und als Koordinationsinstanz zwischen Bund und Ländern wirksam zu werden - die Raumplanung erreichte ihren Bedeutungshöhepunkt. Im Sachverständigenausschuss für Raumordnung (1955-1961) erhielt sie ein Forum, ein wichtiger Schritt zum Bundesraumordnungsgesetz (1965) war getan. Als jedoch 1975 das Bundesraumordnungsprogramm verabschiedet wurde, hatte die Raumplanung ihre Plausibilität als rationales Regierungsinstrument bereits verloren.

Parallel zu dieser Institutionengeschichte erzählt Leendertz die Ideengeschichte der Raumplanung. Diese Ideen bewiesen größere Konstanz, als die bewegte Geschichte der Institutionen vermuten lässt. Die Vorstellung, über planerische Konzepte die Gesellschaft strukturieren und stabilisieren zu können, hielt sich hartnäckig von den ersten Ansätzen der Raumplanung um die Wende zum 20. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre hinein. Über eine ausgewogene räumliche Ordnung wollten die Raumplaner die Verwerfungen der Moderne kurieren, die sich in Urbanisierung, Industrialisierung und Mobilisierung offenbarten. Dabei hatte Leendertz zufolge vor allem das Konzept der Volksgemeinschaft eine wichtige Funktion. Wie eine Brücke habe es die beiden Jahrhunderthälften verbunden und so die anhaltende Plausibilität der raumplanerischen Konzepte auch in der Bundesrepublik gewahrt. Lediglich auf der semantischen Ebene macht Leendertz Veränderungen bei den raumplanerischen Ideen aus, inhaltlich habe es keine Veränderungen gegeben. Statt ,,Volk und Raum" habe es nun ,,Bevölkerung und Tragfähigkeit" geheißen - worin Leendertz eher eine oberflächliche Versachlichung denn eine substanzielle Neuorientierung erkennt. Denn die ,,Skepsis gegenüber einer pluralistischen Massen- und Großstadtgesellschaft [...], in der sich die Gemeinschaft vermeintlich aufzulösen drohte", sei geblieben (S. 397).

Dies habe sich erst mit dem Übergang zur zweiten oder Postmoderne verändert. Mit diesem Forschungsergebnis kann Leendertz' Arbeit als Beitrag gelesen werden, die ,neue Zäsur' der Zeitgeschichtsforschung, die 1970er Jahre, genauer zu konturieren. Die Zeit ,,nach dem Boom" (1) schickt sich an - und dazu trägt diese Arbeit zweifellos bei -, die bislang einflussreichen Deutungsmuster der bundesrepublikanischen Geschichte abzulösen. Allerdings muss doch angemerkt werden, dass die stark chronologische Gliederung der Arbeit nicht immer optimal ist. Der eigene Anspruch, Kontinuitäten und Brüche abseits ,normaler` Zäsuren auszuloten, gerät immer wieder zum Balanceakt, wenn die Kapiteleinteilungen einer konventionellen (politisch-wirtschaftlichen) Periodisierung der deutschen Geschichte folgen. So ist Leendertz gezwungen, immer wieder vor und zurück zu verweisen, zum Teil die gleichen Quellen mehrmals in unterschiedlichen Kontexten zu interpretieren - einmal als Variante, die noch nicht mehrheitsfähig gewesen sei, ein anderes Mal nach dem Muster: früher bereits vorgedacht, erst jetzt anschlussfähig. Insbesondere die Transformationsphasen, die Leendertz herausarbeitet - zum einen die Ausweitung des raumplanerischen Anspruchs und Interventionsraums um 1930, zum anderen die Akzeptanz der pluralistischen Gesellschaft um 1970 - verliefen weniger geradlinig, als es die chronologische Anlage des Buchs zunächst suggerieren mag. So wird die Lektüre deutlich erschwert, und die dominanten Themen und Topoi, die sich durch die Geschichte der Raumplanung ziehen (,,Verdichtung", ,,Dezentralisierung", ,,Gestaltung", ,,Harmonie") drohen, im chronologischen Gewirr unterzugehen. Die Untersuchung scheint häufig bei der Schilderung der institutionellen Rahmenbedingungen und Rekonstruktion der Denkfiguren stehen zu bleiben, ohne diese deutlicher herauszuarbeiten. Denn auch Denkfiguren müssen in ihrer Materialität ernst genommen werden; sie sind mehr als nur Mittel der ,,Suggestivität" (S. 395), um sich institutionelle Vorteile verschaffen zu können.

Anette Schlimm, Oldenburg

Fußnoten:


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