ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Plumpe (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte (Basistexte Geschichte, Bd. 2), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008, 287 S., kart., 24,00 €.

Wenn es um die Standortbestimmung und Selbstreflexion des eigenen Faches geht, so liegt insbesondere im Fall geschichtswissenschaftlicher Disziplinen eine historiografische Herangehensweise nahe: Man begreift und diskutiert das eigene Fach in seiner Genese und stützt sich dabei auf die Positionierungen und Grundsatzäußerungen vorangegangener Forschergenerationen. Umgekehrt ist jede Kompilation von klassischen Texten (oder besser, um weniger einschlägige Schriften nicht auszusperren: von ,Basistexten') eines Fachs notwendigerweise eine invention of tradition: Lange vor der Einrichtung entsprechend denominierter Lehrstühle beschäftigten sich Forscher mit Fragen und Problemlagen, die den aktuellen des Faches affin sind. Im unerfreulichsten Fall werden diese Vorläufer in scholastischer Manier zu Autoritäten erhoben, deren Verehrung in Fußnoten und eröffnenden Zitaten es den Epigonen erspart, eigenständige Definitionen des eigenen Wissenschaftsverständnisses zu erarbeiten. Den Epigonen der Epigonen, also den Studierenden, werden kostengünstige Kompilationen von Schlüsseltexten zur Verfügung gestellt, damit sie zum Zweck der Sozialisierung in das Fach schnell und effektiv Stil und Habitus emulieren können.

Die von Werner Plumpe eingeleitete und herausgegebene Sammlung wirtschaftshistorischer Basistexte zählt explizit nicht zu dieser unerfreulichen Variante des Genres. Plumpe wahrt eine angenehme Distanz zu den von ihm ausgewählten Texten, stellt sie in den Zusammenhang der wirtschaftshistorischen Forschungstradition in Deutschland seit etwa 1900 beziehungsweise wählt sie bewusst ,,subjektiv und arbiträr" (S. 21) aus, um eben diese Forschungstradition in ihren methodologisch-theoretischen Brenn- und Streitpunkten zu illustrieren, soweit sie ihm für sein Verständnis des Fachs wichtig erscheinen. Zum Ende seiner Einleitung hin (S. 35-39) geht Plumpe scharfsinnig über die Quellentexte hinaus, arbeitet Dimensionen der präsentierten Debatten heraus und unternimmt eine - unten näher diskutierte - Fundierung der eigenen Position im Hinblick auf das zentrale Motiv, welches sich durch den gesamten Band zieht, nämlich das Spannungsverhältnis wirtschafts- und geschichtswissenschaftlicher Sichtweisen, in dem sich das Fach permanent befindet.

Alle von Plumpe ausgewählten Texte setzen sich mit dem Verhältnis von Geschichte und Theorie beziehungsweise Empirie und Theorie auseinander oder aber mit der Frage, welche Theorie für das wirtschaftshistorische Arbeiten konkret herangezogen werden solle. Vier Texte (von Georg Brodnitz, Alfons Dopsch, Werner Sombart und Otto Hinze) zeigen die deutsche Diskussion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die um eine Positionierung und Verselbstständigung des Fachs im sich allmählich auflösenden nationalökonomischen Fächerspektrum ringt. Die folgenden Texte sind fast gänzlich anderer Natur, es sind gleichsam ,Impulstexte' aus dem angelsächsischen Raum (Rostow, Pollard, Gerschenkron, Fogel, North), zudem haben die Annales in Gestalt von Braudel einen Kurzauftritt. Reflexionen der frühen bundesdeutschen Wirtschaftshistoriker fehlen - vermutlich, weil sie mit Ausnahme einsamer Rufer wie Wilhelm Abel eher theorieavers wirken, und damit wenig attraktiv im Sinne der von Plumpe angestrebten invention of tradition einer theoriereflektierten, modernen Wirtschaftsgeschichte sind. Gerade das Gegenteil gilt für den wortgewaltigen Wehler, dessen bissiger Rückblick auf das Fach für die Jahre 1945 bis 1970 mit 30 Seiten den größten Raum im Band einnimmt. Die Sammlung wird abgerundet durch die kritische Sicht des Betriebswirts Alfred Kieser auf den Nutzen der Institutionenökonomie für die Historie und Hansjörg Siegenthalers Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende.

Abgesehen von der mit vier Beiträgen starken Betonung der Historischen Schule ist es auffällig, dass die im Fach seit etwa drei bis vier Jahrzehnten sehr einflussreiche New Economic History, also ökonometrisch arbeitende Wirtschaftsgeschichte, eher geringe Aufmerksamkeit erfährt. Dies ist Plumpes spezifischem Fachverständnis geschuldet: Er lehnt es ab, Wirtschaftsgeschichte als gleichsam wirtschaftswissenschaftlichen Zugriff auf Geschichte zu begreifen, und plädiert umgekehrt für einen primär geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf ,Wirtschaft' (d.h. die ,,materiellen Grundlagen der Gesellschaft im historischen Wandel", S. 38), der recht deutlich kulturgeschichtlich geprägt ist (nämlich im Wesentlichen Vorstellungen, Semantiken und Praktiken des Wirtschaftens untersuchen solle). Wirtschaftswissenschaftliche Herangehensweisen haben ihren Platz, dürften aber nur im Bewusstsein der historisch-spezifischen Gültigkeit ökonomischer Konzepte und Modelle erfolgen und nicht anachronistisch auf Epochen beziehungsweise Verhältnisse zielen, denen sie nicht angemessen sind. Kurz gesagt: Da sich die Ökonomik in der Beschäftigung mit modernen kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen herausgebildet habe, könne sie eben bestenfalls diese beschreiben, keineswegs aber auf andere Verhältnisse Anwendung finden.

Interessanterweise käme aber wohl niemand auf die Idee, einen in der Beschäftigung mit schriftlosen Gesellschaften geschulten Ethnologen vor einer Analyse moderner kapitalistischer Gesellschaften zu warnen. Für Ökonomen und Ethnologen gilt natürlich gleichermaßen, dass Befunde, die für eine Gesellschaft empirisch validiert wurden, nicht automatisch Gültigkeit für anders konfigurierte Gesellschaften beanspruchen können (und dies ist in der Tat jedem Ethnologen und jedem Historiker, aber längst nicht jedem Ökonomen klar). Im Hinblick auf die Methodologie gilt dies aber nicht. Alle gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die Geschichtswissenschaft eingeschlossen, haben einen notwendigerweise anachronistischen Zugriff auf vergangene Epochen, da sich ihre Fragestellungen und Herangehensweisen aus dem Zeitgeist des untersuchenden Subjekts und nicht aus dem Zeitgeist des untersuchten Objekts speisen. Ökonometrische Analyse (also das Spezifizieren von Modellen, um Zusammenhänge zwischen messbaren Größen herzustellen) ist ohne Weiteres auch für nicht-kapitalistische Wirtschaftsverhältnisse möglich, soweit man sich über die Aussagekraft der verwendeten Daten und die Kontextualisierung der Befunde ausreichend Gedanken macht - also in geschichtswissenschaftlich reflektierter Weise arbeitet (was leider nicht bei jeder ökonometrischen Studie der Fall ist).

Plumpe fokussiert mit seiner Textsammlung stark auf die Theorieorientierung der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Der faktisch beobachtbare wirtschaftswissenschaftliche Einfluss auf die Wirtschaftsgeschichte besteht aber weniger in der Zulieferung von Theorien als im Import von Methoden. Womöglich ist es also an der Zeit, den alten Diskurs um die Selbstfindung der Wirtschaftsgeschichte in der Auseinandersetzung um das Problem der Theorie künftig stärker in eine Debatte um Erkenntnisinteressen und Methodologien zu entwickeln.

Die vorliegende Kompilation von Basistexten ist ein gutes Fundament für die weitere Debatte. Ein wenig unklar ist, für wen es ein gutes Fundament bietet: Wer ist die Zielgruppe? Laut Umschlag sind es Studierende; doch gerade Anfänger im Fach werden ihre liebe Mühe und Not haben, den stellenweise recht voraussetzungsreichen Texten - auch von Plumpe selbst - ohne Hilfestellung zu folgen. Die Selbstreflexionen des Fachs basieren im Allgemeinen auf einer sehr guten Kenntnis sowohl der wirtschaftshistorischen Forschungslandschaft selbst als auch von wissenschaftstheoretischen Konzepten aus dem gesamten Bereich der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Somit erschließen sie sich eigentlich nur jenen, die ebenfalls über diese Kenntnisse verfügen: mehr oder weniger etablierten Angehörigen des Fachs. Zu deren Aufgaben (so sie im universitären Bereich tätig sind) gehört es aber auch, diese Kenntnisse weiterzuvermitteln - und gerade da bietet diese Textsammlung den Zusatznutzen, dass sie in der Vorbereitung so mancher Seminarsitzung den Gang in die Bibliothek erspart. Eine so begründete Kaufempfehlung mag nach all den vorstehenden Erörterungen etwas nüchtern wirken. Aber am Schnittpunkt von Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften zählt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ja nicht mehr und nicht weniger als die Fähigkeit zur rationalen Nutzenmaximierung.

Alexander Engel, Göttingen


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