ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880-1940 (Bürgertum. Studien zur Zivilgesellschaft, Neue Folge, Bd. 6), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, 476 S., geb., 59,90 €.

Dem Autor geht es in seiner Frankfurter Habilitationsschrift darum, die Entwicklung öffentlicher Wohlfahrt von der Gemeinde beziehungsweise Stadt her zu denken und dieses Thema mit dem ,,bürgerlicher Sozialreform" zu verknüpfen. Die bürgerlichen Sozialreformer versteht er als Akteure, die auf eine Rationalisierung und Kontrolle von Gemeindeverwaltungen hinwirkten, Wohlfahrtspolitik als Feld entwickelten und sich langfristig nicht der Notwendigkeit verschlossen, sie zu professionalisieren. Somit habe sich eine faktische ,,Wohlfahrtsgesellschaft" auf bürgerlich-kommunaler Basis entwickelt, die man dem Wohlfahrtsstaat zur Seite stellen müsse. Bis in die Weimarer Republik hinein sieht der Autor ein relativ ausbalanciertes Verhältnis zwischen beiden Größen. Überraschend ist, dass die Begriffe ,,Wohlfahrtsstaat" und ,,bürgerliche Sozialreform" in dieser komparativen Studie auch für die USA verwendet werden sollen. Gräser verkennt nicht, dass der ,,welfare state" vor dem Hintergrund spezifischer Wertordnungen und politisch-gesellschaftlicher Konstellationen in den Vereinigten Staaten auf prinzipielle und gesellschaftlich breit verankerte Vorbehalte traf und sich bis zum New Deal, der sich wiederum als ,,Krise der Wohlfahrtsgesellschaft" darstelle, nur wenig zu entwickeln vermochte. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wiederum war nach dem Ersten Weltkrieg in der Lage, Standards auch in der Sphäre bürgerlicher Wohlfahrtspolitik zu setzen, so dass sich fragt, ob und wie lange das postulierte Gleichgewicht von Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat funktionierte. Um den Vergleich zwischen Deutschland und den USA (und zwischen den so unterschiedlichen Vergleichsstädten Frankfurt am Main und Chicago) durchführen zu können, sucht der Autor zugleich nachzuweisen, dass der amerikanische Begriff der ,,middle class" äquivalent mit dem des städtischen ,,Bürgertums" zu verstehen sei.

Vor dieser Konstruktion, die sowohl von vergleichbaren Strukturen als auch Terminologien ausgeht, werden dann die Differenzen der Handlungskonzepte und -praktiken herausgearbeitet. So hinsichtlich des Zusammenhangs von Wohltätigkeit und Demokratie: Bei den deutschen Reformern habe sich immer das Verhältnis von Patron und Klient reproduziert. Die amerikanischen hätten hingegen mit ihren - heute schon mythischen - ,,settlement houses" inmitten der Slums die Fähigkeit ihres Klientels fördern wollen, an der Gestaltung der Stadtgesellschaft aktiv teilzunehmen. So war denn auch eine Jane Addams in Deutschland undenkbar - im Übrigen hält Gräser der feministisch inspirierten Forschung zu ,,maternalistischer Wohlfahrtspolitik" vor, die enge Verknüpfung von Frauenengagement und Sozialreform nicht beachtet zu haben. Der Autor geht sehr breit den sozialmoralischen Einstellungen der Beteiligten nach, ihren Ängsten und Wünschen, und verknüpft so politische Ideengeschichte mit Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Hierin liegt gegenüber älteren eher an Organisationen wie dem Verein für Sozialpolitik orientierten Darstellungen die hauptsächliche methodische Innovation der Studie (abgesehen von der Komparatistik). Es wird nicht verkannt, welche Wirkmächtigkeit die organisierten ,,party machines" amerikanischer Großstädte hatten, wie es Rückschläge bei der kommunalen Arbeitslosenpolitik gab, wie die ,,educated middle class" in den Gremien unterrepräsentiert war. Gräser übersieht auch nicht, dass die materielle Lage der Bedürftigen hier wie dort auf kommunaler Ebene vielfältig individuell, aber nicht wirklich grundlegend verbessert werden konnte. Vor allem konnte bürgerliche Wohltätigkeit in noch so gut organisierter Form nie die Prinzipien der Rechtsförmigkeit und Verlässlichkeit von Unterstützungsleistungen herstellen, die dann über gesetzliche Regulierung essenzielle zivilisatorische Standards wurden.

Etwas irritierend ist, dass der Verfasser, obwohl er eine Vielzahl von Akteuren auf Stadtebene einbezieht, sich doch ganz auf die Armenversorgung und Sozialarbeit konzentriert hat, ohne genügend zu beachten, welche weiteren Handlungsfelder sich aus der Sozialreformbewegung heraus entwickelten. Wo ist hier die Sphäre der Infrastruktur-, Wohnungs- und Stadtplanungspolitik? Selbst wenn man sie primär als ökonomisch und funktionalistisch angelegt sieht, ist doch nicht zu übersehen, dass professionelle Akteure der bürgerlichen Sozialreform ihre Ziele im Rahmen der (deutschen, teils dann auch amerikanischen) ,,Leistungsverwaltungen" durchsetzten, das heißt institutionell und nachhaltig. Somit ist es auch bezeichnend, dass sich im Buch weder dieser Begriff noch der des ,,Munizipalsozialismus" als internationale Reformbewegung findet, die doch zwischen ,,Staat" und ,,Gesellschaft" vermittelte. Die Impulse ,,bürgerlicher Sozialreform" beschränkten sich nicht auf die Bewältigung gesellschaftlicher Armut, auf Reziprozität, Harmonisierung sozialer Beziehungen - und den Ausschluss der Armen von der politischen Macht. Radikalere Varianten zielten auf öffentliche Intervention. Es bleibt das Verdienst des Verfassers, erstmals eine umfassende, differenzierte Sozial- und Mentalitätsgeschichte von Wohlfahrtspolitik in transatlantischer und interkultureller Perspektive erarbeitet zu haben. Das Thema, gerade auf der aktivistischen kommunalen Ebene, ist damit als eines allgemeiner Geschichtswissenschaft re-etabliert.

Clemens Zimmermann, Saarbrücken


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