ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Katrin Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Moderne Zeit, Bd. 16), Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 479 S., geb., 46,00 €.

Marx-Jaskulski beschreibt in ihrer Arbeit ,,Armut und Fürsorge auf dem Land" sowohl die Situation und Fremdwahrnehmung armer Landbevölkerung als auch die Strukturen und Mechanismen öffentlicher Fürsorge in den Kreisen Bernkastel und Wittlich (1) von etwa 1880 bis 1933.

Die historische Fürsorgeforschung hat sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts überwiegend mit der Fürsorge in Städten beschäftigt, insbesondere im Kontext der Industrialisierung. Die Autorin widmet sich also einem Forschungsdefizit, indem sie mit ihrer Arbeit einen Forschungsbeitrag zur Armut und den Strukturen und Mechanismen öffentlicher Fürsorge in ländlichen Räumen vorlegt.

Marx-Jaskulski widmet sich in der Einleitung den rechtlichen Voraussetzungen öffentlicher Fürsorge in Preußen. Breiten Raum nimmt dabei das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1870 ein, das regelte, wie die Armenlast zwischen den Kommunen zu verteilen sei. Bedürftige hatten im Untersuchungszeitraum keine rechtlich einklagbaren Ansprüche auf öffentliche Fürsorgeleistungen. Die Autorin zeigt vergleichend auf, dass das Ausmaß der Unterstützung in einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich war, denn die Gewährung sowie die Höhe der Leistungen lagen im Ermessen der zuständigen Ämter. Sie beschreibt, wie fehlende verbindliche Definitionen über die Kategorien Unterstützungsbedürftigkeit und -würdigkeit die Entscheidungsprozesse lokaler Verwaltungen über die Gewährung von Hilfen vielfach beliebig und intransparent machten. Die Autorin arbeitet sodann die besonderen Bedingungen ländlicher Armenfürsorge heraus, indem sie die sozioökonomischen Zustände skizziert. Den einleitenden Teil der Arbeit schließt sie mit einem kurzen Abriss über den Einfluss der Folgen des Ersten Weltkrieges auf die Sozialgesetzgebungspraxis während der Weimarer Republik und mit einer Darstellung der Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 ab.

Im ersten Hauptteil der Arbeit befasst sich Marx-Jaskulski mit konkreten institutionellen Rahmenbedingungen öffentlicher Fürsorge ab den 1880er Jahren. Angefangen bei der Darstellung der Verwaltungspraxis zweier ländlicher Bürokratien zeigt sie anschließend Kooperationsmöglichkeiten auf, die von Seiten der öffentlichen Verwaltung mit freien Fürsorgeorganisationen und Stiftungen bestanden. Nachfolgend verdeutlicht sie die Veränderungen der Gestaltung öffentlicher Fürsorge in der Weimarer Republik, die durch das Inkrafttreten der Reichsfürsorgepflichtverordnung eintraten. Als Fazit kann Marx-Jaskulski deutlich machen, dass sich durch diese überaus wichtige sozialrechtliche Reform zunächst im Verwaltungshandeln der untersuchten ländlichen Behörden nur wenig änderte und das Gesetz kaum Einfluss auf die Verwaltungsorganisation der Armenpflege hatte.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit nimmt Marx-Jaskulski eine andere Perspektive ein. Sie analysiert Armut aus einem lebensweltlichen Kontext heraus und stellt die Wahrnehmung von Armen und Bedürftigen durch Behörden einerseits und Bevölkerung andererseits dar. In diesem Teil nimmt sie erstmals wirklich materiell Bezug zum Thema ,,Armut auf dem Land". Sie verdeutlicht, welchen Einfluss gegenseitige soziale Kontrolle unter den Bewohnern ländlicher Räume auf die Beantragung öffentlicher Fürsorgeleistungen hatte. Damit verbunden präzisiert sie den Einfluss zwischenmenschlicher Repressionen gegenüber bedürftigen, Fürsorgeleistungen in Anspruch nehmenden Personen in kleinen sozialen Gemeinschaften. So macht die Autorin sichtbar, warum gerade in den untersuchten Regionen recht wenige Anträge auf Unterstützung durch die öffentliche Fürsorge von Bedürftigen gestellt wurden. Dieser Tatsache widmet sie besondere Aufmerksamkeit, da ihrer Interpretation zufolge die Zahl der Bedürftigen auf dem Land insgesamt wesentlich höher gewesen sein dürfte als die Zahl der Antragssteller. Zugleich arbeitet sie heraus, dass Armut zumeist keine statische auf Dauer angelegte Kategorie gewesen ist, sondern im Wesentlichen ein Merkmal verschiedener Lebensphasen einzelner Individuen, wie beispielsweise vorübergehend Arbeitsunfähige oder Witwen, darstellte.

Marx-Jaskulski bietet mit ihrer mikrogeschichtlichen Forschungsarbeit eine detaillierte Sicht auf Armut und öffentliche Fürsorge in den Kreisen Bernkastel und Wittlich. Akkurat zeichnet sie die Entwicklung preußischer Armengesetzgebung bis in die Weimarer Republik hinein nach. Die Autorin beschreibt umfassend die institutionellen Prozesse der Armenfürsorge und gibt zugleich interessante Einblicke, wie Armut auf dem Land wahrgenommen, erlebt und gelebt wurde und wie das öffentliche Fürsorgesystem im Einzelfall hierauf reagierte. Generalisierbare Aussagen für das gesamte Deutsche Reich dürften sich damit aber nur schwerlich formulieren lassen.

Die Organisation öffentlicher Fürsorge war bis zum Ersten Weltkrieg zwar institutionell geregelt, jedoch, und das arbeitet die Autorin nachvollziehbar heraus, regional höchst unterschiedlich organisiert. Dabei dürfen der Einfluss freier Fürsorgeorganisationen und ihrer Akteure im gesamten Untersuchungszeitraum sowie die Bedeutung von Stiftungen zur Armenpflege und deren Einbindung in die Gemeindestrukturen bis zur Inflation 1923 auf das zu gewährende Ausmaß öffentlicher Fürsorge nicht unterschätzt werden. Gerade dieses für die Entwicklung des deutschen Sozialstaats charakteristische Neben- und Miteinander der öffentlichen und freien Träger wirkte sich letztlich auch auf die Gewährung öffentlicher Hilfen und das Vorgehen der Behörden aus.

Björn Pfadenhauer, Essen

Fußnoten:


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