ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hartwig Brandt/Ewald Grothe (Hrsg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus (Rechtshistorische Reihe, Bd. 350), Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main/Berlin etc. 2007, 149 S., brosch., 36,20 €.

In der deutschen Geschichtsschreibung führte der Rheinbund lange Zeit ein Schattendasein. Er wurde als Einrichtung der napoleonischen ,,Fremdherrschaft" angesehen, seine wichtigsten Gliedstaaten wurden als ,,geschichtslose Gebilde" bezeichnet, und die während der Rheinbundzeit begonnene Reformpolitik wurde in ihrer Bedeutung gegenüber den vielfach verklärten preußischen Reformen deutlich zurückgesetzt. Die in den 1970er Jahren einsetzende neue Rheinbundforschung, der vor allem Helmut Berding, Elisabeth Fehrenbach und Eberhard Weis wichtige Impulse gaben, hat die tradierten Bilder der älteren deutschen Nationalgeschichtsschreibung inzwischen gründlich revidiert. Durch viele Arbeiten, aber auch durch große Ausstellungen wie die 2007 in Kassel gezeigte Ausstellung zum Königreich Westphalen ist das Bewusstsein dafür geschärft worden, welch wichtige Weichenstellungen die innerhalb des Rheinbundes begonnene Reformpolitik für die weitere deutsche Geschichte vorgenommen hat. Dass in diesem Zusammenhang auch die Verfassungspolitik der Rheinbundstaaten neu gesehen werden musste und nicht länger mit dem Begriff eines scheinbar folgenlosen ,,Scheinkonstitutionalismus" abgetan werden sollte, ist zwar schon in früheren Arbeiten herausgestellt worden. Dennoch ist der von zwei ausgewiesenen Kennern der deutschen Verfassungsgeschichte herausgegebene Band zum ,,Rheinbündischen Konstitutionalismus" aus mehreren Gründen sehr zu begrüßen. Erstens zeigt er nochmals sehr deutlich die große Bedeutung, die dem Rheinbund bei der deutschen Rezeption moderner westeuropäischer Verfassungsprinzipien zufiel. Zweitens verstärkt er die wichtige Einsicht, dass die von der napoleonischen Politik ausgehenden verfassungspolitischen Impulse trotz des praktischen Scheiterns der Verfassungspolitik nachhaltige Wirkungen gezeitigt und damit die Entwicklung zum modernen Verfassungsstaat letztlich maßgeblich gefördert haben. Drittens lässt der Vergleich der Verfassungspolitik von sechs höchst unterschiedlichen Rheinbundstaaten aber auch erkennen, dass der rheinbündische Konstitutionalismus keine einheitliche Phase der deutschen Verfassungsgeschichte war, sondern dass aus dem unterschiedlich wirksam werdenden Einfluss Frankreichs und abweichenden Ausgangsbedingungen der jeweiligen Staaten auch unterschiedliche Verfassungsmodelle hervorgehen konnten. Der Band liefert deshalb einen wichtigen Anstoß für eine, auf wichtigen Feldern noch in den Anfängen steckende komparative Sicht auf die rheinbündische Reformpolitik.

In der Einleitung des Bandes werden die Ziele des Vorhabens klar umrissen und die Fragestellungen sehr überzeugend in die Rheinbundforschung und in die übergreifenden verfassungsgeschichtlichen Diskurse eingeordnet. Die großen Veränderungen, die mit der napoleonischen Machtexpansion und dem Ende des Alten Reiches einsetzten, werden ebenso angesprochen wie der widersprüchliche Charakter der napoleonischen Herrschaft, die mit ihrer Reformpolitik einerseits die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchsprozesse entscheidend beschleunigte, andererseits aber wegen der andauernden Kriegssituation und den damit verbundenen Zugriffen Napoleons auf die materiellen und personellen Ressourcen der Rheinbundstaaten am Ende auf vielen Felder einen Torso hinterließ. Im ersten, von Gerhard Schuck verfassten Beitrag wird zunächst dargelegt, welche Bedeutung der Rheinbund insgesamt für die Politik Napoleons besaß, welchen Rahmen die Rheinbundakte setzte und warum trotz anfänglicher Versuche und publizistischer Unterstützung die Pläne eines institutionellen Ausbaus des Rheinbundes scheiterten. Die folgenden sechs Beiträge sind dann den konstitutionellen Entwicklungen einzelner Rheinbundstaaten gewidmet. Ewald Grothe stellt die im August 1807 von Napoleon oktroyierte Verfassung des Königreichs Westphalen vor und arbeitet die mit ihr verbundenen Modernisierungsimpulse heraus. Der These vom bloßen ,,Scheinkonstitutionalismus" hält Grothe in Anlehnung an die neuere Forschung zu Recht entgegen, dass die westphälischen Reichsstände trotz ihrer begrenzten Wirkungsmöglichkeiten in ihrer konkreten Arbeit doch protoparlamentarische Züge aufwiesen und die Verfassung bei allen Defiziten eine Vorbildwirkung für spätere deutsche Verfassungsentwicklungen besaß. Etwas andere Entstehungsbedingungen prägten die von Hardtwig Brandt behandelte bayerische Konstitution von 1808, die zwar in vielem eine Kopie des westfälischen Vorbildes war, aber nicht nur den Vorgaben Napoleons entsprang, sondern ihre Wurzeln auch in den Reformüberlegungen der aufgeklärten Monarchie hatte, wie sie in Bayern der langjährige Minister Montgelas formuliert hatte. Auch wenn das als ,,Herzstück der Verfassung" vorgesehene Parlament nie zusammentrat und die verfassungspraktische Probe ausblieb, sieht Brandt in der Konstitution von 1808 eine wichtige Vorstufe zu der bayerischen Verfassung von 1818. An das westphälische Modell knüpfte auch die Verfassung des kurzlebigen Großherzogtums Frankfurt an, die von Barbara Dölemeyer vorgestellt und zugleich mit dem Grundgesetz des Primatialstaates, das Karl Theodor von Dalberg 1806 erlassen hatte, und der 1816 für die Freie Stadt Frankfurt vereinbarten Constitutions-Ergänzungs-Acte verglichen wird. Obwohl auch im Großherzogtum Frankfurt die Umsetzung der neuen verfassungspolitischen Vorgaben auf vielfältige Hindernisse stieß und die vorgesehene Notabelnversammlung nie zusammentrat, setzte die neue Ordnung Prozesse in Gang, die auch nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft nicht mehr völlig rückgängig gemacht werden konnten.

Ganz andere Ausgangssituationen und Interessenlagen stellten sich bei den mitteldeutschen Kleinstaaten, deren Rolle im deutschen Frühkonstitutionalismus lange Zeit völlig unterbelichtet geblieben ist und denen in dem vorliegenden Band nun gleich drei Beiträge gewidmet sind. Edgar Liebmann analysiert das bislang wenig beachtete, kurzlebige Verfassungswerk des Kleinstaats Anhalt-Köthen, dessen von Napoleon begeisterter Herzog August Christian Friedrich im Frühjahr 1811 mit der Einführung des Code Napoleon auch ein neues Regierungs- und Justizsystem etablierte. Das Reformwerk, das einen ,,tiefgreifenden Einschnitt auf dem Weg von einer (spät-)feudalen zu einer bürgerlichen Gesellschaft" markierte, stieß allerdings schon innerhalb der Landesverwaltung auf großen Widerstand und wurde nach dem plötzlichen Tod des Herzogs noch vor dem Ende der napoleonischen Herrschaft suspendiert. Gerhard Müller, der in den letzten Jahren den lange wenig beachteten mitteldeutschen Frühkonstitutionalismus in zahlreichen Arbeiten ausführlich untersucht hat, schildert in zwei Beiträgen die verfassungspolitischen Entwicklungen im Fürstentum Reuß älterer Linie und im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. In diesen beiden, von den territorialen Umwälzungen nicht betroffenen, kleinen Rheinbundstaaten spielten anders als in Westphalen, Bayern oder dem Großherzogtum Frankfurt integrationspolitische Motive keine entscheidende Rolle für die Reformen der Staatsordnung, ausschlaggebend war vor allem die kaum noch zu bewältigende Finanzsituation. Deshalb interpretiert Müller das im Frühjahr 1809 in Abstimmung mit den landschaftlichen Deputierten eingeführte Landesgrundgesetz in Reuß eher als ein Finanzgesetz, das ältere finanzpolitische Mitwirkungsrechte der Stände in eine modernere Form kleidete. Dennoch wurden die Stände damit indirekt als eine ,,integrale, an der Ausübung zentraler staatlicher Hoheitsfunktionen beteiligte Institution der Landesverfassung" definiert. Während die Veränderungen in Reuß letztlich aber ohne große Wirkungen für die gesamtdeutsche Verfassungsentwicklung blieben, sah dies im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach etwas anders aus. Schließlich war dieser 1815 zum Großherzogtum aufsteigende Staat der erste deutsche Staat, der sich nach dem Wiener Kongress auf der Basis des Artikels 13 eine Verfassung gab und 1817 als erster einen modernen Landtag einberief. Gerhard Müller zeigt, wie schon vor 1806 innerhalb der Thüringer Kleinstaaten Debatten über neue Verfassungen einsetzten und wie dann die neuen Herausforderungen nach dem Ende des Alten Reiches, vor allem die Finanzkrise, in Sachsen-Weimar-Eisenach die Verfassungsinitiativen beschleunigten. Im Unterschied zu Westphalen oder Bayern gab es aber keinen Verfassungsoktroi des Monarchen, vielmehr wurde die Verfassung von 1809 zwischen Fürst und Ständen ausgehandelt. Obwohl die Verfassung anders als in Westphalen keinen staatsbegründenden, sondern nur einen herrschaftsmodifizierenden Charakter besaß, wies die politische Praxis, wie Müller nachweist, bereits Ansätze eines modernen Parlamentsverständnisses auf. Die Verfassung von 1809 war daher durchaus eine wichtige Etappe auf dem Weg von den alten Ständevertretungen zur Repräsentativverfassung, wie sie das Großherzogtum 1816 erhielt. Die Befunde von Müller tragen dazu bei, die alte Debatte über Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Übergang von altständischen zu modernen Verfassungen zu entschärfen. Die aus Frankreich kommenden Anstöße haben, wie die Herausgeber des Bandes zu Recht betonen, der modernen Verfassungsentwicklung Deutschlands im frühen 19. Jahrhundert den entscheidenden Schub gegeben. Dennoch sollte, wie der Blick auf Sachsen-Weimar zeigt, nicht übersehen werden, dass sich auch im Gehäuse alter Institutionen und Ordnungen Wandlungsvorgänge vollziehen konnten, die neuen Entwicklungen Vorschub leisteten. Insgesamt liefern die Beiträge des Bandes eine außerordentlich nützliche Grundlage für weitergehende Forschungen zum rheinbündischen Konstitutionalismus.

Hans-Werner Hahn, Jena


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