ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Seifert, Bildgeschichten für Chinas Massen. Comic und Comicproduktion im 20. Jahrhundert, Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2008, VIII + 309 S., geb., 44,90 €.

Vor wenigen Jahrzehnten noch als ,,triviale" Erzeugnisse einer ,,eindimensionalen Kultur" (Marcuse) und der ,,Kulturindustrie" (Horkheimer/Adorno) kritisch beäugt, finden Comics in der literatursoziologischen und kommunikationstheoretischen Forschung mittlerweile starke Beachtung, gerade weil sie aufgrund ihrer massenhaften Verbreitung breiten Bevölkerungsschichten einen Anschluss an eine - wie auch immer geartete - Kultur ermöglichen und politisierend-ideologisierend wirken können. Wichtige Bearbeitungsfelder für die Analyse sind dabei der Werkcharakter (Sprache, Bilder, Handlung, ggf. Wertung), der Warencharakter (Produktion und Distribution, Produkt und Produzent, Leserschaft) und der Wirkungscharakter (politische Funktion, triviale Muster, Schematisierung) von Comics.

Diesen Aspekten geht auch Andreas Seifert in ,,Bildgeschichten für Chinas Massen: Comic und Comicproduktion im 20. Jahrhundert" nach. Der Titel dieser hochinteressanten Studie ist insofern irreführend, als erstens die Regionen Taiwan und Hongkong bewusst ausgeklammert bzw. nur angeschnitten werden. Zweitens gewichtet Seifert die Entwicklungsphasen des chinesischen Comics unterschiedlich, wobei er den Fokus auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. Bürgerkrieg verschiebt, auf die 1950er bis 1990er Jahre (Die Entwicklung bis 1949 wird auf ca. 50 Seiten abgehandelt, die Entwicklung nach 1949 auf ca. 200 Seiten). Drittens gilt Seiferts besonderes Augenmerk ausdrücklich den lianhuanhua (wörtlich: ,,Ketten-" oder ,,verbundene Bilder").

Die in China gebräuchlichen Begrifflichkeiten aus dem Bereich der Comic-Produktion lassen sich nur bedingt mit der westlichen Terminologie in Deckung bringen: Bei den lianhuanhua handelt es sich - in Seiferts Definition - um Bildergeschichten mit ,,[einem] Panel pro Seite, welches mit einem separat stehenden Text versehen ist [...]. Die Verwendung von Sprechblasen stellt die Ausnahme dar, nicht die Regel". Von diesen unterscheidet er manhua (Karikaturen i.w.S., aber auch Bildergeschichten und lyrische Bilder) und katong (von engl. cartoons), also Zeitungscartoons, aber auch Bildergeschichten und i.d.R. unpolitische Comics, im Gegensatz zum englischen Sprachgebrauch jedoch nicht Zeichentrickfilme (S. 13-18).

Seifert geht in seiner Arbeit zunächst den Ursprüngen des Comics in China und der weiteren Entwicklung bis 1949 nach, wobei er sich weniger für die handwerklichen und kunstgeschichtlichen Aspekte interessiert als für gesellschaftliche Kontexte. Zu Recht weist er darauf hin, dass die Entwicklung der konstituierenden Elemente graduell erfolgte (S. 32). Den Beginn des chinesischen Comics auf einen formalen Anfangspunkt wie z.B. das Jahr 1913 (so in Bai Yu, Lianhuanhuaxue gailun, Jinan 1997) zu legen, ist unsinnig, zumal Elemente wie z.B. durchlaufende Bildserien (also nicht Illustrationen), die sequenziell mit durchgängigem Text geschaltet sind, in China bereits Hunderte von Jahren zuvor existierten. Relativ ausführlich beschreibt Seifert ,,Lu Xun und seine Positionen gegenüber dem Comic" (S. 37-41), um anschließend kurz auf die primitiven Arbeitsbedingungen, die Arbeitsteilung und die Hackordnung einzugehen, unter denen Comicproduktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte (S. 42f.).

Das umfangreiche Kapitel 3 zur ,,Volksrepublik China" bildet den Hauptteil des Buchs und ist in die zwei methodischen Teile ,,Chronologischer Zugang" vs. ,,Thematischer Zugang" gegliedert. Der erste Teil stellt repräsentative Personen und Titel aus der lianhuanhua-Produktion vor, um den Aufbau und die Strukturen einer nationalen Produktion in der Anfangsphase der VR China bis zum Beginn der Kulturrevolution zu verdeutlichen. Nachdem die lianhuanhua, die in den 1920er Jahren in Shanghai entstanden waren, im Anschluss an die Kulturrevolution Mitte der 1980er Jahre einen Höhepunkt der Verbreitung erfuhren, ist die Produktion mittlerweile fast vollständig zum Erliegen gekommen. Als ,,kulturell konstituierendes Medium", so Seiferts Grundthese, hatten sie ,,jeweils spezifische Funktionen für die Gesellschaft im Bereich der Identitätsbildung und der politischen wie gesellschaftlichen Anleitung" und ,,waren also in der Lage, gesellschaftliche Zustände zu begleiten und zu beeinflussen" (S. 2). Die naheliegende Vermutung, dass Comics während der Zeit der Kulturrevolution aufgrund festgelegter politischer Botschaften und eines ,,eingeschränkten Formen- und Artikulationsrepertoirs" langweilig und stereotyp wirken, wird von Seifert denn auch bestätigt (S. 96-116).

Im zweiten Teil widmet sich der Autor dem Verhältnis von lianhuanhua und Literatur, dem Adaptationsprozess, der Entwicklung ausgewählter Stoffe im Zuge der Geschichte sowie dem Umgang der Zeichner, Verlage und Leser mit der Kulturrevolution. Exemplarisch wird zu diesem Zweck vergleichend eine Szene in zwei verschiedenen Ausgaben der Comicfassung des Politromans ,,Roter Fels" (Hongyan) analysiert (S. 153-186). Die Darstellung ist, wie auch der Rest der Arbeit, sorgfältig, ausführlich und befriedigend geraten. Wenig verwundert allerdings das Teilresultat, dass Literaturvorlagen zu ,,Steinbrüchen" wurden, ,,aus dem [sic] man sich frei bedienen kann." Gleiches gilt für Seiferts Schlussfolgerung, dass Comics Figuren aus literarischen Vorlagen vereinfachen, wie auch eine allgemeine Tendenz zur Reduktion, auch bei ganzen Szenen, vorherrsche, d.h. der Text ,,selektiert erhalten" bleibt (S. 182f.). Arten der Revision umfassten neben kompletten Verboten und Kürzungen auch Veränderungen im Detail, neue Bildcodes und sprachliche Änderungen (S. 208-233). Auch wenn, wie von chinesischen Forschern behauptet, ein formales, unmittelbares Weisungsrecht der Partei bezüglich Auswahl und Adaptation von Stoffen zu vermuten wäre, wird dies von Seifert verneint, denn ein informeller, aber deswegen nicht weniger effektiver Überwachungsrahmen in Form von Schulungen, Berichtspflicht, Parteimitgliedschaft und ähnlichem sei jederzeit gewährleistet gewesen (S. 187-190).

Nützlich sind unter den Anhängen neben einer Übersicht über die gängigen chinesischen Papierformate vor allem die Kurzbiografien ausgewählter Zeichner und Autoren (S. 269-288). Es fehlt allerdings ein Index, der es ermöglicht hätte, Detailinformationen auch im Nachhinein gezielt zu lokalisieren. Verlag und Korrekturlesern ist eine saubere Lektoratsarbeit zu bescheinigen. Ein Blick in die - offensichtlich nicht redigierte - Danksagung mit ihren zahlreichen Tipp-, Grammatik- und Rechtschreibfehlern wie auch die Kopfzeile zum Kapitel 3.1 (,,Ein Chronlogischer [sic] Zugang: Grundvorraussetzungen" [sic]) verrät, in welchem Zustand das Typoskript sich ursprünglich befunden haben muss.

Aufgrund der oben erwähnten Fokussierung der Darstellung auf die Zeit nach 1949 werden frühe ,Klassiker' wie die Karikaturen von Feng Zikai (1898-1975), die Serie ,,Wang xiansheng" (Herr Wang) von Ye Qianyu und die Figur des Sanmao von Zhang Leping (S. 48-55), die an der Grenzlinie zwischen Illustration und Comic i.e.S. standen, nur gestreift. Dies mag bei Feng Zikai, der bereits Gegenstand einiger westlicher Forschungsarbeiten gewesen ist, zu verschmerzen sein, wogegen der Rezensent über Ye und Zhang gerne mehr erfahren hätte.

Solche Petitessen sollen aber nicht von Seiferts eindrucksvoller Leistung ablenken. Alleine das Literaturverzeichnis zeugt von einem immensen Rechercheaufwand. Die Darstellung ist ausführlich, in vielen Abschnitten geradezu detailversessen geraten, wird dabei aber immer wieder aufgelockert durch kleine Exkurse, in denen der Autor einzelne Teilbereiche des Produktionsprozesses beleuchtet (so z.B. zur Problematik von Publikationsangaben, wie sie sich in den Impressen in Form der Auflagenhöhe wiederfinden, S. 202-207). ,,Bildgeschichten für Chinas Massen" bietet eine willkommene Ergänzung im Forschungsfeld und ist eben deshalb wertvoll, weil westliche und auch japanische Sekundärliteratur zum chinesischen Comic bislang in nur geringer Zahl vorliegt.

Rüdiger Breuer, Bochum


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