ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

David Gugerli/Patrick Kupper/Daniel Speich, Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855-2005, Chronos Verlag, Zürich 2005, 523 S., geb., 44,80 €.

Die 1855 gegründete Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich kann auf eineinhalb Jahrhunderte Geschichte zurückblicken, die sich in mehreren Festschriften kondensierte: Die erste Festschrift des Professors für Schweizer Geschichte am damaligen Polytechnikum, Wilhelm Oechsli, aus dem Jahr 1905 bearbeitete die Gründungsgeschichte historistisch, jene von 1930 dokumentierte die bauliche Erweiterung und diejenige zum 100-jährigen Jubiläum von 1955 brachte Unübersichtlichkeit zum Ausdruck, indem es die Geschichte der explodierenden Fächerlandschaft den Erzählungen der Instituts- und Abteilungsleiter überließ. Das Autorenteam der jüngsten Festschrift, das an der Abteilung ,,Technikgeschichte" der ETH forscht und lehrt, macht gleich zu Beginn der Studie sein Programm klar: ,,Das vorliegende Buch muss keine Festschrift sein." Die Haushistoriker der ETH haben das Korsett einer Festschrift (Dokumentations-, Chronik- und Repräsentationspflichten) abgestreift und an das WWW (1) sowie einen Katalog (2) delegiert. Der empfehlenswerte Katalog nähert sich der 150-jährigen Geschichte über die Hintertür der kleinen Beobachtungen und mittels einer Erzähltechnik, die in Anlehnung an Robert Altmans gleichnamigem Film als short cut bezeichnet werden könnte. Damit ist Freiraum geschaffen für das, was die Autoren ,,Luxus" nennen. Sie haben keine bloße Institutionengeschichte vorgelegt, sondern einen wichtigen Beitrag zur Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte der Schweiz und der internationalen Scientific Community geschrieben.

Der methodische Trick dieses Unterfangens liegt darin, die Geschichte der ETH als eine Abfolge von ,,Konjunkturen" zu begreifen. Zum einen handelt es sich dabei um die freie Leseart eines vom Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger für die Laborwissenschaften entwickelten Konzeptes. Rheinberger versteht ,,Konjunktur" als Auftreten von unvorwegnehmbaren Ereignissen, die zu größeren Rekombinationen in der Herstellung und Repräsentation von Wissen führen. (3) Zum anderen stand die Idee des Wirtschaftshistorikers Hansjörg Siegenthaler Pate, dass sich die moderne Gesellschaft in ,,Krisendiskursen" zyklisch neu verständige und formiere. (4) Das Ergebnis ist zwar eine klassisch chronologische Erzählung, doch sind es die ,,Krisen"- oder ,,Konjunkturperioden", die ,,mit erstaunlicher und zufälliger Regelmässigkeit" alle sechs Jahrzehnte (nach 1848, um 1908 und nach 1968) auftraten, an denen die Autoren ihre These entwickeln, die dem Titel des Buchs Pate stand: die ETH als gesellschaftliche Zukunftsmaschine zu beschreiben.

Im ersten von sechs Kapiteln (1848-1855) wird die bereits von Wilhelm Oechsli 1905 dargestellte Gründung des Polytechnikum neu gelesen und prägnant als politisches Manifest, Aushängeschild, finanzielles Investitionsprojekt oder kurz: als Realisierung des jungen, fragilen Bundesstaates identifiziert. Diese von den Eliten des schweizerischen nation building-Prozesses intendierte Engführung von Wissenschaft und Staat wird im zweiten Kapitel (1855-1905) aufgegriffen und im Kontext des Industrialisierungsprozesses analysiert. Das Polytechnikum war viele Jahrzehnte lang neben Militär und Verwaltung der drittgrößte Ausgabeposten des Bundesstaates. Es war offen für ausländische Studierende und etablierte sich zum international hoch angesehenen Durchlauferhitzer für die gesellschaftlich an Gewicht zulegenden technischen Eliten. Die Forschung blieb im 19. Jahrhundert absolut peripher, angewandt, behörden- und wirtschaftsnah und kreiste um die großen Infrastrukturprojekte: Eisenbahn- und Straßenbau und Meliorationen. Erst in einer zweiten Phase gesellten sich Kooperationen mit der Chemischen Industrie dazu. Das dritte Kapitel (1905-1911) widmet sich der ersten ,,Krisen"- oder ,,Konjunkturperiode", in der das Polytechnikum reformiert wurde. Die ins Alter gekommene Institution erhielt einen neuen Namen (ETH), das Promotionsrecht und freiere Gestaltungsmöglichkeiten des Studiums.

Im Zentrum des reichhaltigen, aber etwas unübersichtlich geratenen vierten Kapitels (1911-1968) stehen die Modernisierungskrise der 1930er Jahre und ihre langfristigen Folgen. Während bislang eine Engführung von Staat und Hochschule an der ETH leitend war, wird nun auf eine Trennung von Wissenschaft und Politik und Hochschule hingearbeitet. Dies vermag auch zu erklären, weshalb die Sozialwissenschaften einen schweren Stand an der ETH hatten, und neue Fachbereiche wie das Scientific Management klein gehalten wurden. Nichtsdestotrotz sind gerade die 1930er Jahre durch eine Instrumentalisierung der Geisteswissenschaften im Dienste der Geistigen Landesverteidigung und durch eine besonders enge Verflechtung von Landwirtschaft, Politik und Wissenschaft in den Agrarwissenschaften gekennzeichnet. Brisant sind die von den Autoren für die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs vorgelegten Befunde: Während der Schulrat trotz restriktiver Flüchtlingspolitik der Schweiz einer Verschweizerung der Studentenschaft entgegen wirken wollte, drängten fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen bei der Rekrutierung des Lehrkörpers voll durch. Die restriktive Flüchtlingspolitik des Bundes und die antisemitische Rekrutierungspolitik der ETH verhinderten, dass die ETH von der Entlassung jüdischer Hochschullehrer in Deutschland profitieren konnte. Gerade im internationalen Vergleich aufschlussreich ist zudem das Resultat, dass sich - anders als am amerikanischen Pendant MIT- an der ETH während des Zweiten Weltkriegs kein militärisch-technischer Komplex herausbildete.

Das fünfte Kapitel (1968-1975) widmet sich der bislang letzten Krisephase: dem Scheitern der Revision des Gründungsgesetzes der ETH aus dem Jahr 1854 vor den Stimmbürgern an der Urne. ,1968' verlief an der ETH zwar vergleichsweise ruhig, doch was folgte war eine institutionelle ,,Experimentierphase". Zumindest die Berufung Paul Feyerabends zum Ordinarius für Wissenschaftsphilosophie im Jahr 1979 durch den Präsidenten der ETH (,,Nicht einmal Feyerabend kann eine große Schule wie die ETH zugrunde richten" (5)) könnte als Versuch verstanden werden, das Experimentieren im Sinne der Wissenschaftsforschung (d. h. Antworten auf Fragen suchen, die noch nicht gestellt werden können) an der ETH zu institutionalisieren.

Das letzte Kapitel (1975-2005) wagt sich schließlich am Beispiel einer als Wissensgeschichte verstandenen Verwaltungsgeschichte der ETH in historisch noch weitgehend unbearbeitete Zeitschichten der postindustriellen Gesellschaft vor. Ein zentrales Konzepte ist dabei ,,Flexibilisierung": Sei es beim Versuch, komplexe Strukturen durch rechnergestützte Informationssysteme und insbesondere Datenbanken, komplexe Materien durch projektorientiertes Studium, neue oder interdisziplinäre Studiengänge (wie die 1987 eingeführte Umweltwissenschaft) oder die Führungsstruktur selbst durch eine Matrixorganisation wieder in den Griff zu kriegen.

Anders als ihre Vorgänger haben die Autoren der vierten Festschrift das Format der Textsorte gesprengt und den äußerst fruchtbaren Versuch unternommen, eine traditionsreiche Institutionen mit den Werkzeugen verschiedener (konstruktivistischer, strukturbezogener und genealogischer) Theorietraditionen zu begreifen. Auch wenn dabei manchmal Blindgänger produziert werden (die konzeptionellen Verweise auf Michel Foucault wirken übergestülpt und analytisch nicht eingelöst), der Versuch, die Welt durch die ETH und die ETH durch die Welt zu sehen, ist gelungen. Die Leserin ist nach der Lektüre um einige neue Fragen reicher.

Monika Dommann, Basel

Fußnoten:


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 26. August 2009