ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Otto Bräutigam, Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin, Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 480 S., geb., 23,00 €.

Da die Bundesrepublik Deutschland die DDR nie völkerrechtlich anerkannte, war sie in Ost-Berlin nie mit einer Botschaft, sondern nur mit einer an das Bundeskanzleramt angebundenen Ständigen Vertretung präsent. Die beiden prominentesten Leiter dieser bundesdeutschen Vertretungen, die Journalisten Günter Gaus und Klaus Bölling, haben die aufgrund ihrer Tätigkeit in Ost-Berlin gewonnenen Erkenntnisse über die DDR und ihre Erlebnisse in Büchern festgehalten, die in den 1980er Jahren wertvolle Einblicke in die inneren Verhältnisse der DDR boten. 20 Jahre nach der friedlichen Revolution hat nun auch der dritte ,,Ständige Vertreter" Hans Otto Bräutigam seine Erinnerungen vorgelegt. Trotz eines inzwischen weit fortgeschrittenen Forschungsstands zur DDR-Geschichte und zu den deutsch-deutschen Beziehungen ist dieser Band äußerst lesenswert, da der Verfasser oftmals einen Blick hinter die Kulissen ermöglicht, kluge Bewertungen vornimmt und etwas von der damaligen Atmosphäre vermittelt.

Bräutigam war ,,Karrierediplomat". Seit 1961 im Auswärtigen Amt, wurde er im März 1969 ins Deutschland- und Berlin-Referat versetzt und gehörte ab Januar 1971 der bundesdeutschen Verhandlungsdelegation unter Egon Bahr an, die den Transit-, den deutsch-deutschen Verkehrs- und den Grundlagenvertrag aushandelte. 1973 wurde er auf Anregung Bahrs vom designierten Leiter der Ständigen Vertretung, Günter Gaus, gefragt, ob er als Leiter der politischen Abteilung mit nach Ost-Berlin gehen wolle. Er sagte zu und blieb dort von 1974 bis 1977. Zwischen 1977 und 1980 leitete er den Arbeitsstab für Deutschland- und Berlinpolitik im Kanzleramt, war danach kurzzeitig Leiter der Unterabteilung Osteuropa im Auswärtigen Amt, um ab Mai 1982 erneut nach Ost-Berlin zu gehen, diesmal als Leiter der Ständigen Vertretung. Im Januar 1989 verließ er die DDR, deren Untergang er als Botschafter bei den Vereinten Nationen aus New York beobachtete.

Bräutigam beschränkt sich auf die 20 Jahre seiner Karriere, in denen er mit den deutsch-deutschen Beziehungen befasst war. Dabei macht er keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Neue Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition und wirft dabei ein Schlaglicht auf die Auseinandersetzungen im Auswärtigen Amt zwischen den meist jüngeren Mitarbeitern, die, wie er selbst, kritisch gegenüber der Hallstein-Doktrin eingestellt waren, und einer ,,Gruppe nationalkonservativer Kollegen" (S. 28), die sich gegen jegliche Aufweichung der bundesdeutschen Positionen gegenüber dem Ostblock wandten. Seine Schilderung der deutsch-deutschen Verhandlungen wird dort interessant, wo er aus eigenem Erleben berichtet und etwa schreibt, dass Bahr den Grundlagenvertrag lieber ohne Richtlinien des Kabinetts aushandeln wollte, ,,mit denen ,die Wachhunde' in der Regierung ihn doch nur an die Kette legen wollten" - er meinte damit Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher (S. 67). Auch dass im Auswärtigen Amt Vorbehalte gegen die Verhandlungen gehegt wurden und der Leiter der Rechtsabteilung kurz vor Paraphierung des Grundlagenvertrags noch darauf verwies, dass der Vertrag einer völkerrechtlichen Anerkennung sehr nahe komme und daher verfassungsrechtliche Risiken in sich berge, war bisher unbekannt.

In weiten Teilen des Buches geht es um das Auf und Ab der deutsch-deutschen Beziehungen zwischen 1974 und 1988. Zentrale und weniger zentrale Ereignisse und Begebenheiten aus diesen Jahren werden wieder in Erinnerung gerufen: die Ausweisung von westdeutschen Korrespondenten aus der DDR 1975 und 1977, das ,,Krisenjahr" 1976, das u.a. von zahlreichen Toten an der innerdeutschen Grenze und von der Biermann-Ausbürgerung geprägt war, die erfolgreichen Verkehrsverhandlungen mit der DDR 1975 und 1978, die deutsch-deutsche Dimension des NATO-Doppelbeschlusses und der Raketenstationierung in der Bundesrepublik ab 1983, der Besuch von Helmut Schmidt in der DDR 1981 und der Honecker-Besuch in Bonn 1987 sowie das Drama um die DDR-Bürger, die 1984 in die Ständige Vertretung flüchteten und ihre Ausreise durchsetzten. Bräutigam kann dazu manches bisher unbekannte Detail und manche interessante Beobachtung beisteuern, da er in der DDR über zahlreiche Kontakte verfügte - nicht nur zum ZK der SED und zum Außenministerium, sondern auch zu den Kirchen, zu Schriftstellern und zu den ,,Gruppen". Dass er dabei auch auf Kritik an der Bundesregierung stieß, so etwa als Dissidenten ihm gegenüber in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Kontakte zum SED-Regime und die üppigen Finanzzuwendungen an Ost-Berlin anprangerten, verschweigt er nicht.

Neues Licht wirft Bräutigam auf das offenbar von Anfang an gespannte Verhältnis von Gaus und Schmidt. Schmidt betrachtete den Ständigen Vertreter als ausführendes Organ der von ihm bestimmten Deutschlandpolitik; Gaus jedoch wollte selbst die Meinungsführerschaft auf diesem Gebiet übernehmen. Außerdem hielt Schmidt eisern an den deutschlandpolitischen Grundpositionen Bonns fest, Gaus hingegen ging es primär um ,,ein vernunftbestimmtes Verhältnis der beiden deutschen Staaten, eine besondere Partnerschaft über die ideologischen Gräben hinweg" (S. 230). Kein Wunder, dass Gaus aus den deutsch-deutschen Verhandlungen zunehmend ausgeschaltet wurde und Schmidt ab 1977 immer häufiger über Wolfgang Vogel oder direkt mit Honecker kommunizierte. Schmidt, der sehr viel distanzierter gegenüber der DDR und Honecker war als Brandt, sah mit der Zeit vor allem den Vorteil der Berechenbarkeit von Honeckers Politik; gleichwohl habe er, so Bräutigam, die Wiedervereinigung nie aus den Augen verloren. Trotz des guten Verhältnisses zu Schmidt wird auch Kohl nicht ohne Sympathie geschildert; als die CSU im Herbst 1983 offensichtlich die Ablösung Bräutigams forderte, hielt der Bundeskanzler an ihm fest. Allerdings beauftragte Kohl Staatsminister Jenninger und dessen Nachfolger Schäuble mit den konkreten Verhandlungen mit Vogel und Schalck-Golodkowski. Diese weitgehende Ausschaltung aus der operativen Politik zu akzeptieren, fiel Bräutigam schwer.

Immer wieder beschäftigte er sich mit der Frage nach dem Zusammenhalt der Deutschen. Während er glaubt, der Gedanke einer einheitlichen deutschen Nation sei zu Beginn der 1970er Jahre in der DDR noch lebendig gewesen, bezweifelte er dies für die Bundesrepublik. 1977, bei seiner ersten Rückkehr aus Ost-Berlin nach Bonn, war er noch überzeugt, ,,dass die deutsche Nation auch eine lange Zeit der Teilung überdauern werde" (S. 199). Und dies vor allem deshalb, weil viele DDR-Bürger die Teilung als künstlich empfanden und sich mit den Westdeutschen zusammengehörig fühlten. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kamen ihm Zweifel, als er in einem Gesprächskreis in Erfurt einer Teilnehmerin die Frage nach ihrer Heimat stellte. Denn die Befragte bekannte sich nicht zu Europa, Deutschland, der DDR oder Thüringen, sondern nur zu ihrer Dorfgemeinde. Bräutigam zog daraus den Schluss, dass viele Deutsche in Ost und West ,,von Deutschland und der deutschen Nation nur noch eine blasse Vorstellung zu haben" schienen (S. 364). Der Verlauf der Friedlichen Revolution in der DDR hat diesen Befund glücklicherweise nicht bestätigt.

Hermann Wentker, Berlin


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