ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

José M. Faraldo/Paulina Gulińska-Jurgiel/Christian Domnitz (Hrsg.), Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945-1991). Europe in the Eastern Bloc. Imaginations and Discourses (1945-1991) (Zeithistorische Studien, Bd. 44), Böhlau Verlag, Köln/Weimar etc. 2008, 407 S., geb., 44,90 €.

,,Europa" ist ein dem Wandel der Zeit unterworfener Begriff, eine Metapher wie ,,Westen", ,,Okzident" oder ,,Orient". Im Allgemeinen werden sie aber ,,so gebraucht, als existiere eine eindeutige äußere Realität, der sie entsprechen". (1) Mentalitätsgeschichtlich ist Europa ein altes Projekt, das sich in seiner Abgrenzung nach Außen Form und Inhalt zu geben suchte. Als politisches Gebilde ist Europa hingegen jung. Im Kontext solcher Debatten wird oft gerade auch die Schwierigkeit thematisiert, das Konstrukt ,,Europa" konzeptuell zu erfassen. (2) Der These, dass es ,,Europa" gar nicht gäbe (3), stehen Ansätze gegenüber, die Europa unter wissenschaftlichen Blickwinkeln und mit Hilfe ganz unterschiedlicher disziplinärer und methodischer Zugriffe additiv konstruieren. Die klassische Europa-Geschichte ist nach diesem Muster zumeist nicht mehr als ein Konstrukt nationalstaatlicher Einzelgeschichten. Dabei wird eine Einheit in der Vielfalt unterstellt. Wolfgang Schmale hingegen vertritt mit einem kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresse den Ansatz, ,,die Geschichte Europas an dem festzumachen, was Menschen [...] als Europa bezeichnen, als Europa wahrgenommen haben. Europa ist da, wo Menschen von Europa reden und schreiben, wo Menschen Europa malen und in Stein meißeln, oder anders ausgedrückt, wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und dem Begriff Europa Sinn und Bedeutung konstituieren." (4) Schmale untersucht die Konstituierung Europas ,,als Ergebnis performativer Akte, als diskursive Konstitution und Europa im Sinne allgemeiner Strukturelemente". (5) Hinzu kommt, dass Europa und Europabilder nur unter Berücksichtung ,,außereuropäischer" Blickwinkel und Konstruktionen zu verstehen und zu analysieren sind. (6)

Der hier angezeigte Sammelband reiht sich in diese Bemühungen ein. Im Zentrum steht die Frage, wie ,,Europa" in den europäischen kommunistischen Staaten nach 1945 wahrgenommen wurde, welche ,,Europa-Visionen" und ,,-Bilder" offiziell wie inoffiziell vertreten und entworfen wurden. Der Band vereint 20 Aufsätze. Die Autoren und Autorinnen kommen, dem Thema angemessen, möchte man meinen, aus elf verschiedenen Ländern, darunter mit der Ukraine nur eines, das nicht der EU angehört. Auch wenn der Titel den Begriff ,,Ostblock" aufweist, zeigen mehrere Aufsätze, dass sowohl dieser wie auch der politische Begriff ,,Osteuropa" eine Einheitlichkeit suggerieren, die historisch so nie gegeben war. Zugleich wirkt ,,in den Köpfen" gerade vieler ,,Westeuropäer" die unterstellte monolithische Einheit fort, so dass noch heute viele Stereotype über das alte politische Osteuropa vital sind.

In der Einleitung von José M. Faraldo wird der Ansatz des Bandes knapp skizziert. Ihm geht es darum, europäische Masternarrative zu hinterfragen und durch neue Blickwinkel aufzuweichen oder ad acta zu legen. Dabei betont Faraldo, dass die vielschichtige Beschäftigung mit Europa im ,,Ostblock" nicht nur überraschende Erkenntnisse offenbart, sondern zugleich einen bislang wenig beachteten Beitrag zur gesamteuropäischen Europa-Debatte darstellt. Der Band gliedert sich sodann in fünf Abschnitte. Theoretische Zugänge werden debattiert, Europavorstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit analysiert, Imaginationen von Europa hinterfragt, oppositionelle Debatten reflektiert und schließlich, was in diesem thematischen Kontext besonders wichtig ist, osteuropäische Exilstimmen untersucht.

Auch wenn ,naturgemäß' nicht alle Beiträge auf gleicher analytischer Höhe argumentieren, hin und wieder Stereotype reproduziert werden und mancher Beitrag sprachlich wie methodisch nicht ausgereift erscheint, so stellt der Band insgesamt eine Fundgrube für weitere Debatten dar. Dabei befruchtet er nicht nur die Beschäftigung mit ,,Europa" im Sinne Schmales, der auch Autor in diesem Band ist, sondern eröffnet auch vielerlei Perspektiven auf die Innenleben kommunistischer Systeme. Es gibt keine tragende Grundthese, die den Band zusammenhält. Vielmehr geht es darum, einen Teil der Vielschichtigkeit anhand von Fallstudien aufzuzeigen. Gerade weil die Beiträge in toto Debatten und Überlegungen aus Polen, der CSSR, Ungarn, der Ukraine, Jugoslawien, Rumänien oder der DDR aufgreifen, verbietet sich auch eine solche Grundthese. Die Hülle Kommunismus mag einheitlich gewesen sein, aber schon der nationalistische Gehalt und damit die europäische Blickrichtung fielen sehr unterschiedlich aus und unterschieden sich in den einzelnen Staaten zudem nochmals kräftig voneinander. So kann man zum Beispiel sehen, dass sich Skepsis gegenüber Europa nicht erst nach 1990 entwickelte, sondern als Abwehrreflex gegenüber Modernität durchaus auch vor 1990 in systemkritischen Kreisen vorhanden war. Zugleich lässt sich ersehen, dass ,,Europa" nicht nur für viele ,,einfache" Menschen im Kommunismus aufgrund von Wohlstand und Freiheit erstrebenswert war, sondern auch viele Systemkritiker als Vision überzeugte.

So ist das Besondere an diesem interessanten, aufschlussreichen und verdienstvollen Band vor allem darin zu sehen, dass sich Herausgeber und Autoren nicht scheuten, ein ständiges ,,sowohl-als auch" zuzulassen, und dieses dabei sogar noch bekräftigen. Ebenso ist hervorzuheben, dass der Band eine thematische Vielfalt aufweist, die ihn für Experten ebenso interessant macht wie für den allgemein an ,,Europa" oder am Kommunismus interessierten Leser.

Nun weisen Sammelbände nicht nur qualitativ unterschiedliche Beiträge auf, sondern müssen oft auch den ,,Mut zur Lücke" aufbringen. Mir scheint nur eine ,,Lücke" wirklich schmerzvoll. Obwohl die Sicht der herrschenden Kommunisten nicht zu kurz kommt, so hätte den Band doch ein Beitrag abrunden können, der sich mit dem ,,Kommunismus als europäischer Idee" beschäftigt hätte. Dabei geht es gar nicht darum, den Kommunismus als Idee aus Europa zu thematisieren - die Einlassungen von Faraldo dazu erscheinen mir weder stichhaltig noch plausibel noch richtig -, sondern um die Frage, wie die sich internationalistisch gerierenden kommunistischen Herrscher, allesamt ja Nationalkommunisten, wie auch in diesem Band richtig und häufig betont wird, ein kommunistisches Gesamteuropa vorstellten. Denn dies war nun einmal Sinn und Zweck ihrer ,,historischen Mission". Allein die Betonung, die Kommunisten dachten nicht in föderalen Kategorien, erfasst das Problem nicht.

Dieser eher marginale Einwand schmälert jedoch nicht den hohen Wert des Bandes. Der von einer Arbeitsgruppe am ZZF Potsdam herausgegebene Sammelband verspricht zudem in Kürze umfangreiche Monographien zum Thema. Dieses Buch macht schon jetzt neugierig darauf.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

Fußnoten:


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