ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Detlef Brandes, Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 107), Oldenbourg Verlag, München 2008, XIV + 399 S., geb., 39,80 €.

Das Sudetenland erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatische Zäsuren, die schließlich ab 1945 in die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei mündeten. Lange Zeit hatten Historiker aus dem Westen kaum Zugang zu den einschlägigen Quellen in der ČSSR, die es ermöglicht hätten, auf eine breite Quellenbasis gestützte Untersuchungen zur Geschichte der Sudetendeutschen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik oder im Reichsgau Sudetenland in Angriff zu nehmen. Tschechoslowakische Studien wiederum konzentrierten sich vor allem auf das Protektorat Böhmen und Mähren. Die entscheidende Zäsur erfolgte 1989/90. Nach der ,,Samtenen Revolution" in der Tschechoslowakei standen die Pforten der Archive den Historikern - auch jenen aus dem Westen - uneingeschränkt offen. Zahlreiche grundlegende Werke sind seit Mitte der 1990er Jahre entstanden: Volker Zimmermann legte eine Gesamtdarstellung zur Geschichte des Reichsgaues Sudetenland 1938 bis 1945 vor, während Ralf Gebel sich mit der Person des Reichsstatthalters Konrad Henlein befasste. Christoph Boyer und Jaroslav Kučera wiederum untersuchten in ihren Studien zu den deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen beziehungsweise zur Sprachenfrage zwei Kernbereiche der sudetendeutschen Gravamina gegen die Politik Prags in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. (1)

Detlef Brandes, einer der besten Kenner der deutsch-tschechischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und langjähriges Mitglied der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, hat nun pünktlich zum 70. Jahrestag des Münchner Abkommens eine Studie über dessen unmittelbare Vorgeschichte im Krisenjahr 1938 vorgelegt. Brandes geht davon aus, dass ,,die Ursache für die katastrophale Entwicklung der Beziehungen zwischen den Tschechen und den Deutschen in den böhmischen Ländern, die schließlich zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei geführt hat, in den Jahren 1935 bis 1938, besonders in der Zeit zwischen dem ,Anschluss` Österreichs und dem ,Münchner Abkommen` zu suchen ist" (S. VII). Er analysiert in seiner stringent chronologisch angelegten Arbeit die Stimmungen ,,vor Ort", fragt nach der Resonanz, die die Politik der Sudetendeutschen Partei (SdP) unter Führung Konrad Henleins in der Gesellschaft fand, und warum es der Partei binnen weniger Wochen nach dem März 1938 gelang, die Zustimmung von 80 bis 90 Prozent der insgesamt rund 3,2 Millionen Sudetendeutschen zu gewinnen.

In seinem einleitenden Kapitel beschreibt Brandes die Entwicklung im Sudetenland in den Monaten vor dem ,,Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Er unterstreicht die zunehmende Einflussnahme des NS-Regimes: Das Parteiorgan der SdP, ,,Die Zeit. Sudetendeutsche Tageszeitung", wurde ebenso wie eine Reihe anderer sudetendeutscher Blätter aus dem Reich subventioniert. Wichtiger noch war aber der unmittelbare Einfluss der NS-Propaganda: 1938 gaben bei einer Umfrage 91 Prozent aller befragten Sudetendeutschen an, reichsdeutsche Rundfunksender zu hören. Dies lag freilich, so Brandes, auch an der Regierung in Prag und den übrigen sudetendeutschen Parteien, deren Zwistigkeiten über Personalfragen den Start eines eigenen deutschsprachigen Senders in der Tschechoslowakei bis März 1938 verzögert hatten.

Brandes macht die Begeisterung deutlich, mit der die Mehrzahl der Sudetendeutschen auf die Ereignisse in Österreich im März 1938 reagierten. Sie erwarteten daraufhin einen baldigen ,,Anschluss" der eigenen Heimat ans Reich. Das Selbstbewusstsein im Umgang mit den Behörden wuchs, und eine deutsch-nationale Gesinnung wurde zur Schau gestellt. Die bürgerlichen Parteien hingegen verloren an Einfluss und lösten sich im Frühjahr selbst auf oder schlossen sich direkt der SdP an. Diese war nun das Epizentrum der sudetendeutschen Politik. Noch im März 1938 teilte Hitler Henlein mit, er wolle auch das ,,tschechoslowakische Problem" in nicht allzu ferner Zeit lösen. Die SdP solle daher fortan immer neue, unerfüllbare Forderungen an Prag richten. Im Frühjahr 1938 bekannte sich die Partei daraufhin offen zum Nationalsozialismus. Werber der SdP entfachten nun einen massiven Druck, um Sudetendeutsche zum Eintritt in die Partei zu bewegen. In vielen Betrieben wurden nur noch Sudetendeutsche eingestellt, die Parteimitglieder waren. ,,Die Zeit" veröffentlichte Namen von deutschen Kindern, die tschechische Schulen besuchten. Juden, Tschechen, Kommunisten und sudetendeutsche Demokraten wurden zunehmend gesellschaftlich isoliert und wirtschaftlich boykottiert, Kunden jüdischer Geschäfte nach reichsdeutschem Vorbild registriert und teilweise fotografiert.

Als der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Bene_ endlich bereit war, den Sudetendeutschen weitgehende Zugeständnisse zu machen, stand für Henlein eine Einigung mit Prag längst nicht mehr zur Debatte. Die Feiern zum 1. Mai 1938 im Vorfeld der Gemeindewahlen dienten auch dazu, das Selbstbewusstsein der SdP und vor allem ihre immense personelle Stärke zu demonstrieren. Die Zahl ihrer Mitglieder war von März bis Juli 1938 von etwa 760.000 auf mehr als 1,3 Millionen gestiegen. Dem Eindruck einer unaufhaltsamen Bewegung konnte sich kaum noch ein Sudetendeutscher - ganz gleich ob Anhänger oder Gegner der Partei - entziehen. Die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei, wenige Jahre zuvor noch größte deutsche Partei in der ČSR, konnte den nationalen Forderungen der SdP nichts mehr entgegenhalten - auch eine territoriale Autonomie der Sudetengebiete hätte ihr keine Vorteile gebracht, da diese die Vorherrschaft der SdP nur zementiert hätte. Deren Druck führte jetzt dazu, dass die Sozialdemokraten in kaum mehr als der Hälfte der Gemeinden eigene Kandidaten auf die Wahllisten setzen konnten.

Anfang September 1938 besuchte Henlein Hitler auf dem Obersalzberg. Anschließend schwenkte die SdP auf Konfrontationskurs mit der tschechoslowakischen Polizei um. Da Henlein das Angebot Prags, ein sudetendeutsches ,,Bundesland" anerkennen zu wollen, nicht einfach ablehnen konnte, verursachte die Partei am 7. September in Mährisch-Ostrau einen Zwischenfall. Diesen nahm sie zum Anlass, die Gespräche zu unterbrechen. Nach Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 12. September, in der er erklärte, die dreieinhalb Millionen Deutschen jenseits der Grenze seien nicht allein, folgten überall im Sudetenland Demonstrationen und Übergriffe auf Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden und Tschechen. Als Prag am 13. September den Ausnahmezustand in einer Reihe von Gemeinden verhängte, brach die SdP die Verhandlungen endgültig ab. Nach dem Verbot der Partei flohen Henlein und weitere führende Funktionäre ins Reich. Dort wurde das Sudetendeutsche Freikorps aufgestellt, das immer wieder Überfälle auf Zollämter unternahm und politische Gegner ins Reich entführte. In der aufgeheizten Atmosphäre der ,,Septemberkrise", als in ganz Europa Kriegsfurcht herrschte, stieg die Zahl der Ausschreitungen gegen alle vermeintlichen und tatsächlichen Gegner eines ,,Anschlusses" an das Deutsche Reich immer weiter - und sie sollte nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens am 30. September 1938 und dem darauffolgenden Einmarsch der Wehrmacht noch weiter ansteigen.

Brandes zeichnet in seiner Studie die sich ständig zuspitzende Dramatik des ,,Krisenjahres" 1938 eindrucksvoll nach. Er schildert eingehend die gründliche Selbstnazifizierung der Sudetendeutschen Partei und die Bereitschaft, mit der sich ein erheblicher Teil der Sudetendeutschen auf die Partei und damit auf den Nationalsozialismus einschwören ließ, macht aber ebenso deutlich, dass viele Sudetendeutsche auch einfach dem sich stetig vergrößernden Druck der SdP im Sommer 1938 nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Brandes' stets nüchtern und ausgewogen argumentierende Darstellung ruht auf einer breiten Quellenbasis aus tschechischen Archiven. Während er ursprünglich einen Aufsatz hatte schreiben wollen, entstand letztlich eine umfangreiche Monografie. Glücklicherweise hat Brandes sich auf das Unterfangen eingelassen, ein ungeplantes, aber ungemein wichtiges Buch zu Papier zu bringen.

Jörg Osterloh, Frankfurt am Main

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 26. August 2009