ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heinrich Eppe/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung und politischen Praxis der Arbeiterjugendbewegung in Deutschland (Materialien zur historischen Jugendforschung), Juventa Verlag, Weinheim/München 2008, 364 S., kart., 32,00 €.

Die Arbeiterjugend gehört sicherlich nicht zu den heiß umkämpften Forschungsfeldern. Der anzuzeigende Sammelband basiert auf einer Tagung, die das Archiv der Arbeiterjugendbewegung 2003 in Oer-Erkenschwik unter dem Motto ,,100 Jahre Sozialistische Jugendbewegung" organisiert hat. Heinrich Eppe und Ulrich Hermann haben die meisten derjenigen für Beiträge gewinnen können, die in den letzten 30 Jahre zu spezifischen Themen der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in der Weimarer Republik bzw. der Sozialistischen Jugend Deutschlands (SJD/Die Falken) in der Bundesrepublik gearbeitet haben. Von daher ist nicht allein eine thematische Bandbreite versammelt, sondern auch eine methodische recht unterschiedliche Herangehensweise kennzeichnend. Zur geringen institutionellen Verankerung des Themas passt es, dass die meisten Autorinnen und Autoren nach Abschluss ihrer zumeist akademischen Qualifikationsarbeiten nicht im universitären Bereich blieben. Zudem sind ehemals Aktive der SJD mit Beiträgen vertreten.

Ohne den Anspruch zu erheben, eine Gesamtgeschichte der Arbeiterjugendbewegung zu schreiben, sollen mit dem Sammelband Anregungen für weitere Forschungen gegeben werden. Dies ergibt sich bereits aus dem Zugriff des Bandes, denn letztlich präsentiert sich die Arbeiterjugendbewegung hier als sozialdemokratische Arbeiterjugend. Die Herausgeber räumen dies auch ein und betonen, den Fokus auf die Arbeiterjugendbewegung als einer ,,Erziehungs- und Bildungsbewegung" zu legen (S. 9).

Nimmt man das Buch in die Hand, ist die Angst vor einer Verbandsgeschichtsschreibung nur bedingt berechtigt. Wenn auch Unterschiede in der Qualität der Beiträge festzustellen sind, liegt der Erkenntnisgewinn auf zwei Ebenen: Es wird ein Panorama der sozialdemokratischen Jugendbewegung entfaltet und einige auch methodisch anregende Beiträge geben Anregungen zum Weiterdenken.

Gegliedert ist das Buch in sechs Abschnitte mit 17 Artikeln, wobei elf sich mit der Zeit vor 1945 befassen. Ulrich Herrmann skizziert im einführenden Überblicksartikel die Eigenständigkeit der Arbeiterjugend gegenüber der bürgerlichen Jugendbewegung, wobei er die Orientierung auf Bildung in der SAJ hervorhebt. Dieses Thema durchzieht die meisten Artikel. Entsprechend stellt Bettina Reimers die Geschichte der Heimvolkshochschule Schloss Tinz in Gera vor. Auch Artikel zu den Kinderfreunden (Heinrich Eppe) und den Kinderrepubliken der Weimarer Zeit (Bodo Brücher) stehen unter diesem Aspekt. Heidi Behrens untersucht die Bildungsanstrengungen der SAJ im Essener Raum. Die von ihr geführten Interviews geben vor allem im Längsschnitt interessante Hinweise: So etablierten sich die Jugendlichen der 1920er Jahre als ,Machtgruppe` im lokalen Essener Gefüge nach 1945. Die Bildungsanstrengungen der überwiegend proletarischen Jugendlichen zeigten sich auch darin, dass von ihren Kindern und Enkelkindern keines einen Arbeiterberuf ergriff. Aber auch Brüche werden deutlich: Die Protagonisten erleben ab Ende der 1960er Jahre eine Konfrontation mit einer stärker akademisch gebildeten Parteijugend, die sie häufig erschütterte und verunsicherte.

Sehr anregend ist der Aufsatz von Bettina Joergens, in dem sie die Geschlechterverhältnisse anhand zweier exemplarischer Konflikte um das Tanzen in der SAJ und den Naturfreunden 1929/30 und nach 1945 in Minden untersucht. Dieser klug gewählte Ausschnitt belegt, wie ertragreich die Nachzeichnung scheinbar nebensächlicher Konflikte auf lokaler Ebene sein kann. Die von Führungskräften eher verurteilte Tanzlust der jugendlichen Mitglieder führte zu expliziten wie impliziten Debatten über Frauen- und Männerbilder. Der Bildungsanspruch konfligierte mit den Bedürfnissen der Mitglieder, woraus sich geänderte Geschlechtsrollenmuster entwickelten.

Zwei Artikel befassen sich mit der Zeit des Nationalsozialismus. Wolfgang Uellenberg-van Dawen untersucht die antifaschistische Arbeit vor 1933, Birgit Retzlaff gibt eine Skizze zu SAJ-Mitgliedern im Widerstand. Heinrich Eppe versucht 100 Jahre ,,Sozialistische Jugend" zu überblicken. Dabei erscheint ihm die Zeitgeschichte nach 1945 weniger interessant: Sein Diktum ,,die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint aus heutiger Sicht eher langweilig" (S. 68) irritiert etwas. Diese möglicherweise auch biografisch geprägte Wertung spiegelt sich jedoch in dem Sammelband wider. Nur fünf Artikel befassen sich mit der Nachkriegszeit, worunter sich drei Rückblicke ehemaliger Aktivisten befinden (Jürgen Gerull/Heinz Westphal, Bodo Brücher und Konrad Gilges), die über die Arbeit des ,,Referat Mitteldeutschland" der SJD in den 1950er Jahren und über Verbindungen der SJD zur Freien Deutschen Jugend in den 1960er und 1970er Jahren schreiben. Diese Beiträge bieten interessante Innenschauen, sind aber als Zeitzeugenbeiträge zu lesen. Der quellengestützte Artikel von Michael Schmidt über die Gedenkstättenfahrten des Landesverbands Berlin der SJD-Die Falken greift einen bisher noch wenig im Zusammenhang untersuchten Bereich auf. Ab 1956 wurde systematisch eine Gedenkstättenpädagogik entwickelt, die auch politisch umstrittene Reisen zu osteuropäischen Gedenkstätten umfasste. Mehrere Tausend Berliner Jugendliche erlebten eine auch politisch prägende Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Die Bedeutung solcher Gedenkstättenfahrten wäre zum Beispiel auch für die Gewerkschaftsjugend noch zu beleuchten.

Zwei weitere Artikel untersuchen den Anteil der SAJ- bzw. SJD-Mitglieder in den Deutschen Bundestagen. Gisela Notz skizziert dabei den hohen Anteil von ehemaligen SAJlerinnen bei den weiblichen Bundestagsabgeordneten der ersten beiden Legislaturperioden, Heinrich Eppe wertet für alle Bundestagsabgeordneten bis 2002 die Zugehörigkeit zu einer der beiden Jugendorganisationen aus. Ehemalige SAJ-Mitglieder stellten bis zu 37 Prozent der SPD-Bundestagsfraktion, die SJD allerdings nur noch erheblich weniger. Als Gründe betonen Notz wie Eppe die Sozialisation insbesondere in der SAJ als disziplinierter Bildungsbewegung mit starken Aufstiegsambitionen. Ob der hohe Anteil sich vor allem aus dieser Bildungsambition speist, erscheint jedoch fraglich. Das schnelle Nachwachsen der ,,Generation Ollenhauer" in der Bundesrepublik ergab sich ja auch nach der häufigen Unterbrechung der sozialdemokratischen Berufsbiografien nach 1933 und dem Personalmangel nach 1945.

Dies ist möglicherweise das analytische Manko des Sammelbandes. Denn nicht nur zwischen den Zeilen wird immer wieder das Besondere der Sozialisation in der sozialdemokratischen Arbeiterjugendbewegung betont, die Sympathie zum Untersuchungsgegenstand ist unverkennbar. Hier wäre mehr Distanz manchmal wünschenswert gewesen.

Es fehlen in diesem Sammelband Berichte über die sozialdemokratische Arbeiterjugendbewegung in der Bundesrepublik. Allerdings ist diese Lücke inzwischen weniger groß, da ein Band über den Einfluss der Außerparlamentarischen Opposition auf die SJD - Die Falken und die Gewerkschaftsjugend vorgelegt wurde, in dem vor allem Aktivisten interviewt wurden. (1)

Der Leseindruck bleibt zwiespältig: Der Band versammelt die bisherige Forschung zur sozialdemokratischen Arbeiterjugendbewegung, deutet Forschungsperspektiven für die Bundesrepublik jedoch nur an. Gerade die Erosion der Arbeiterklasse als politisches Milieu und die Wandlungen der Lebensstile, die sich auch in der sozialdemokratischen Arbeiterjugendbewegung widerspiegeln, wären gewinnbringende Themen, um ,100 Jahre Arbeiterjugendbewegung' auch für die gegenwärtige Zeitgeschichtsforschung noch interessanter zu machen. Gerade auch die Interpedenzen im internationalen Rahmen oder mit Jugendgruppen der Gewerkschaften oder Kirchen bieten noch anregende Perspektiven. Der Sammelband liefert hierfür wichtige Bausteine.

Eine von Heinrich Eppe erstellte Chronologie und Bibliografie zur Sozialistischen Arbeiterjugendbewegung runden den Band ab.

Knud Andresen, Hamburg

Fußnoten:


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