ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Annette Schuhmann (Hrsg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR (Zeithistorische Studien, Bd. 42), Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2008, 255 S., geb., 34,90 €.

Netzwerke sind wichtig. Das gilt auch für den Analysekoffer der Organisationsforschung in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Man muss dabei nicht in den euphorischen Tonfall eines Manuell Castells und seiner ,,Netzwerkgesellschaft" verfallen, um diese Aussage zu unterschreiben, aber neben Markt und Hierarchie hat sich das Netzwerk offenbar als dritte unabhängige Organisationsform etabliert. Mit einiger zeitlicher Verzögerung scheint dies auch in der Kommunismusforschung angekommen zu sein. Beleg hierfür ist der vorliegende Sammelband des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, der auf eine Tagung im Juni 2005 zurückgeht. Die Herausgeberin Annette Schuhmann hat darin sechs empirisch ausgerichtete Fallstudien zu Beispielen aus der DDR, der CSSR, der UdSSR, Polen und Ungarn versammelt. Mit dieser länderübergreifenden Perspektive öffnet sie das Blickfeld auf nationale Besonderheiten und ermöglicht vergleichende und konzeptionelle Überlegungen. Dies wird von der Herausgeberin selbst sowie von fünf weiteren Autoren im zweiten Teil des Bands geleistet. Dort wird der Netzwerkansatz mit verschiedenen bestehenden Konzepten aus der Unternehmensgeschichte bis zur Sozialstrukturanalyse in Beziehung gesetzt und schließlich nach neuen Einsichten gefragt.

Das präsentierte Material im empirischen Teil zeigt in vielfältiger Weise, dass Netzwerk- und Kommunismusforschung zusammengehören. Im Beitrag zu tschechoslowakischen Industriebetrieben zeigt uns Peter Heumos, welche zentrale Rolle Betriebsräte und Gewerkschaften dort spielten. Über sie schafften es die Beschäftigten in den Betrieben, ihre eigenen Interessen gegen die Machtansprüche der Zentrale zu artikulieren und bis zu einem gewissen Grad auch durchzusetzen. Dies funktionierte vor dem Hintergrund eines ausgeprägten syndikalistischen Selbstverständnisses der Arbeiter. Heumos geht damit über das in der DDR-Forschung entwickelte Konzept der ,,passiven Stärke" der Belegschaften hinaus und sieht die Planwirtschaft von starken teilautonomen Betrieben geprägt. Zur UdSSR in der Ära Leonid Breschnews hat Andreas Oberender eine Analyse beigesteuert, in dem er die Bedeutung von Freunden und Bekannten aus Breschnews früher Funktionärszeit für das persönliche Herrschaftsnetzwerk des Generalsekretärs herausarbeitet. Patronage oder gar Nepotismus waren typisch für die Sowjetunion sowie für andere Ostblockstaaten wie Rumänien oder Bulgarien, während sie in Ländern wie Polen, Ungarn, der CSSR oder auch der DDR weniger ausgeprägt waren. Insofern liegt es nahe, hierfür nationale Mentalitäten und Kulturen mitverantwortlich zu machen. Oberender will Patronage darüber hinaus auch nicht als dysfunktional verstanden wissen, sondern er verweist auf die damit einhergehende vertikale und horizontale Vernetzung für die Führungsklasse und damit auf stabilisierende Funktionen. Auch der Beitrag von Malgortzata Mazurek, der sich auf ausführliche soziologische Studien zu lokalen Akteursnetzwerken in Betriebs-, Verwaltungs- und Parteistrukturen im kommunistischen Polen stützt, geht in diese Richtung. Sie verweist auf funktionale Notwendigkeiten von Netzwerken, damit lokale Interessen artikuliert und durchgesetzt werden konnten. Dabei ging es um eine logisch-rationale, letztlich systemimmanente Verhaltensweise, die nichts mit Opposition oder Widerstand gegen das Regime zu tun hatte. Falsch wäre es ebenfalls, dies als Korruption zu bezeichnen, betont Mazurek. Im empirischen Teil finden sich des Weiteren eine Fallstudie von Árpád von Klimó zu katholischen Jugendgruppen im Ungarn der 1960er Jahre und ein Artikel zur Rolle einer zentralen Personengruppe bei der Vereinheitlichung der Sozialversicherung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) aus der Feder von Dierk Hoffmann. Schließlich beschreibt Heinz Mestrup die Interessengemeinschaft ,,Territoriale Rationalisierung" in der DDR-Stadt Jena, also den Fall eines offiziellen Netzwerks zwischen Verwaltung, Betrieben und wichtigen Institutionen des Kreises in den 1980er Jahren. Er arbeitet die Spinnenfunktion des mächtigen Generaldirektors des Kombinats Carl Zeiss heraus, der diese Struktur dominierte. Hier wird deutlich, wie die SED versuchte, selbst Netzwerkinstitutionen zu initiieren, und wie diese dann vor Ort eigene Dynamiken entwickelten und für spezifische Interessen benutzt wurden.

Im zweiten Teil des Bands finden sich konzeptionelle Überlegungen von Friedericke Sattler, Rafael Mrowczynski, Arnd Bauerkämper, Peter Hübner und Christoph Boyer. So wirbt Sattler dafür, Erkenntnisse der aktuellen, methodisch reflektierten Unternehmensgeschichte für die Analyse des Staatssozialismus nutzbar zu machen. Insbesondere das Instrumentarium der Institutionenökonomik bietet hier Erklärungspotenziale für DDR-Staatsbetriebe und ermöglicht systemübergreifende Vergleiche. Mrowczynski greift das existierende Modell der ,,Etakratie" auf, also die Betonung einer stark hierarchischen Organisation und damit der dominierenden Rolle des Staates im gesamten sozialen Raum. Diese müsse aber um die Rolle von Netzwerken ergänzt werden, weswegen er den Begriff ,,NEtakratie" als Alternative vorschlägt. In seinem Modell erscheint die Planwirtschaft als ständiger Aushandlungsprozess, als ein System mit zahlreichen vertikalen wie horizontalen Verbindungen, die wiederum von Vertrauensbeziehungen zusammengehalten werden.

Als zentrales Erklärungsmuster für die Existenz von Netzwerken wird in dem Band wiederholt auf ihre kompensatorische Funktion verwiesen: Netzwerke insbesondere auf lokaler Ebene verhalfen dem Gesamtsystem zur immer wieder notwendigen Flexibilität. Fast scheint es so, dass allein der Blick auf die empirische Faktizität und weg von der grauen Theorie der Selbst- und Fremdcharakteristik zum Auffinden von Netzwerken führt. Schon allein diese Einsicht führt ein erhebliches Stück über das traditionelle Bild der Ostblockstaaten als zentralplanwirtschaftlich, rein hierarchisch bestimmte Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme hinaus. Es wäre ein großer Erfolg, wenn dieser Band seinen Teil dazu beitragen könnte, diesen Blick zu stärken.

Darüber hinaus sollte man aber auch darüber nachdenken, inwieweit Netzwerke nicht nur Fremdkörper oder Notlösung, sondern auch originärer Teil der kommunistischen Systeme waren. In vielen Beiträgen wird deutlich, wie sich gerade die Führungselite netzwerkartiger Strukturen bediente, um in die Gesellschaft hinein oder in den Betrieben zu wirken. Müssen nicht schon die Strukturen der kommunistischen Parteien und ihrer Massenorganisationen als weitverzweigte Netzwerke gesehen werden, die den politischen Willen in den Alltag der Menschen tragen sollten? Dann wäre auch in neuer Form über die Bedeutung von Vertrauen im Staatssozialismus nachzudenken, denn funktionierende Netzwerke kommen nicht ohne ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Beteiligten aus, darauf verweisen alle Theoretiker.

Armin Müller, Ravensburg


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