ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Olaf Bartz, Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957-2007, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, XVI + 312 S., kart., 44,00 €.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist eine ganze Reihe maßgeblicher Einrichtungen der Wissenschaftsförderung und -organisation der Bundesrepublik Gegenstand eingehenderer Untersuchungen geworden: von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Max-Planck-Gesellschaft über den Stifterverband und die Alexander von Humboldt-Stiftung bis hin zur Studienstiftung und zum Deutschen Hochschulverband. Die hier vorzustellende Arbeit von Olaf Bartz, aus einer an der Universität zu Köln 2005 verteidigten geschichtswissenschaftlichen Dissertation hervorgegangen, setzt diese Reihe überzeugend fort. Ungeachtet des gewählten Untersuchungszeitraums handelt es sich dabei nicht um eine Jubiläumsschrift im klassischen Sinne, sondern um eine wohltuend differenzierte, sorgfältig gearbeitete, angemessen dokumentierte, gut gegliederte, flüssig geschriebene, freilich auch ,,bei ihren Leisten bleibende" Studie.

Ins Zentrum seiner Ausführungen rückt der Autor den 1957 per Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern begründeten Wissenschaftsrat (WR) mit Sitz in Köln, namentlich seine Rolle als Akteur im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Das Handeln und die Wirksamkeit dieses durch ,,innere Unabhängigkeit" ebenso wie durch ,,Zwang zum Konsens" (S. 275) ausgezeichneten Beratungsgremiums mit bis heute nicht genau definierter Rechtsform werden folglich mehr im Hinblick auf Verwaltung und Staat beleuchtet als auf etwaige Politisierung (in) der Wissenschaft oder gar auf die Konjunkturen einzelner Disziplinen. Als Quellengrundlage dienen - neben den zahlreichen Stellungnahmen und Empfehlungen, die vom WR selbst entworfen wurden - das ihn betreffende behördliche Schriftgut sowie acht ,,Zeitzeugeninterviews" mit an maßgeblicher Stelle involvierten Persönlichkeiten. Weitere zeitgenössische Dokumente und die zu Rate gezogene Forschungsliteratur wurden ebenfalls im Sinne dieser klaren Fokussierung ausgewertet.

Die Arbeit geht überwiegend chronologisch vor (Kap. 2 bis 8), indem sie die Gründung und Entwicklung des WR im politischen und - zumindest in den großen Linien - auch im sozialen und ideellen/ideologischen Umfeld nachzeichnet; einzelne wichtige Papiere wie die ,,Empfehlungen zum Ausbau der Wissenschaftlichen Einrichtungen" von 1960, die ,,Empfehlungen nach 1970" oder die ,,Stellungnahmen zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR" (1991/92) werden in ihrem Entstehungshintergrund, ihren Hauptinhalten und ihren Folgen näher vorgestellt, wobei die ausgewählten Zitate und die Analysen des Autors in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Einzig Dieter Simon, fraglos ein wichtiger Wissenschaftspolitiker, langjähriges Mitglied und von 1989 bis 1993 Vorsitzender des WR, zudem ein Meister pointierter Formulierungen, wird vielleicht gar zu oft bemüht, wenn es um allgemeinere Einschätzungen geht.

Darüber hinaus gibt es systematische Kapitel, überschrieben mit ,,Auftakt" (1), ,,Resümee" (10) und ,,Der Wissenschaftsrat als Institution: Mitglieder, Arbeitsweise, Geschäftsstelle" (9), in denen Bartz sozialstatistischen Gegebenheiten, generellen Anliegen und Funktionsweisen des sich kontinuierlich erneuernden Gremiums nachspürt. Das Bemühen um eine derartige Vogelperspektive, die Erfolge und weitsichtige Empfehlungen benennt, verpasste Chancen oder Fehleinschätzungen aber nicht verschweigt, erscheint mitunter wie eine nachträgliche, bis in die Gegenwart hineinreichende Unternehmensberatung. Die insgesamt positive Bilanz (,,ideelle Mitte der Wissenschaftspolitik"; S. 11 und S. 272) erscheint dabei als Resultat von Flexibilität, Effizienz und weiterer struktureller Stärken, was im Hauptteil der Arbeit freilich keinen Verzicht auf historische Kontextualisierung und Spezifizierung bedeutet.

Als durchgehendes Motiv über den gesamten Zeitraum wertet der Autor die Auseinandersetzung mit dem Leitbild des ,,Humboldtianismus" als Grundlegung der deutschen Wissenschaft und der Universität(en) im Besonderen. So bedenkenswert dem Rezensenten dieser von Bartz vorgeschlagene und begründete Begriff erscheint (auch als Alternative zu anderen in der neueren Forschung diskutierten Begriffen), so sehr bedürfte er weitergehender analytischer Präzisierung. Ist der topische Rekurs auf Wilhelm von Humboldt und sein vermeintliches ,,Modell" eine reine Diskursfigur, zumeist mit konkretem wissenschaftspolitischem Hintergrund? Oder umfasst ,,Humboldtianismus" auch gewisse ,,reale" Strukturelemente der deutschen Hochschulen, wie etwa die im vorliegenden Buch mehrfach angeführte Befristung von Wissenschaftlerstellen unterhalb der Professur? Die Problematik, dass vieles ,,Humboldtian(ist)ische" nicht in Wilhelm von Humboldts Schriften auftaucht, ist dem Autor durchaus bewusst (S. 72). Umso wünschenswerter wäre es, dass der Begriff nicht zur allzu einfachen, normativ aufgeladenen, latent polemischen Chiffre für alles vermeintlich Überholte verkommt. So spricht Bartz, sonst wie gesagt um große Ausgewogenheit und Diskretion bemüht, im Kontext seiner Betrachtungen zur noch frischen ,,Exzelleninitiative" vom - in diesem Fall ausgebliebenen - ,,humboldtianistischen Zangengriff aus Linken und Altkonservativen gegen eine differenzierende Modernisierung der Hochschulstrukturen" (S. 245). Auch dass nach den turbulenten Jahren um 1970 den Hochschulen ,,ein Humboldt mit beschränkter Haftung" erhalten geblieben sei (S. 127), dies aber dann offenbar noch über Jahrzehnte, bedürfte genauerer Erläuterung. Nicht zu verwechseln wäre ,,Humboldtianismus" schließlich mit ,,Humboldtian science" in dem Sinne, wie Susan Faye Cannon den Begriff vor gut drei Jahrzehnten in die wissenschaftsgeschichtliche Diskussion eingeführt hat, die für das 19. Jahrhundert charakteristische Verbindung empirisch exakter Detailforschung mit übergreifender Welterklärung meinend, wie sie namentlich Alexander von Humboldt betrieben habe.

Dies alles soll jedenfalls als Ermutigung verstanden werden, der in der Tat unübersehbaren Relevanz von ,,Humboldt" für die hochschulpolitischen Diskussionen und Selbstverständigungen in Deutschland noch präziser nachzugehen und sie in ihrer Diskurslogik aufzuschlüsseln.

Der von Bartz nahegelegte ,,Exkurs" (Kap. 3.3) müsste die breitere öffentliche Diskussion über Wissenschafts- und Bildungspolitik berücksichtigen, auch eine vergleichende Betrachtung zur Bedeutung sonstiger individueller wie institutioneller Akteure einschließen und somit den stabilen und tragfähigen Rahmen des hier gewählten Themas rasch überschreiten. Die ,,Entwicklungslinien" des WR dargestellt zu haben, lässt somit Raum für daran anknüpfende Fragen, ist aber ohne Zweifel eine verdienstvolle Leistung an sich.

Marc Schalenberg, Helsinki


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