ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sebastian Weitkamp, Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der ,,Endlösung" (Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 77), Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2008, 491 S., geb., 48,00 €.

Diese Arbeit, eine Dissertation, steht in der Reihe der großen wissenschaftlichen Biografien, die in den letzten Jahren beispielsweise von Ulrich Herbert und Ernst Piper über NS-Persönlichkeiten erschienen sind. (1) Als Doppelbiografie geht sie auch in Richtung einer Kollektivbiografie der Angehörigen des Auswärtigen Amtes und führt die Arbeit von Christopher Browning (2) fort. Der junge Osnabrücker Historiker Sebastian Weitkamp behandelt das für die europäischen Juden oft verhängnisvolle Wirken zweier AA-Angehöriger im ,Dritten Reich' und deren Weiterleben in der jungen Bundesrepublik. Folgerichtig hat er seine Arbeit den Opfern gewidmet.

Der Autor hat insbesondere das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes, das Aktenmaterial und die Verhörprotokolle der Nürnberger Prozesse, den Nachlass des amerikanischen Untersuchungsführers Robert M. W. Kempner sowie die betreffenden Gerichtsakten aus der Nachkriegszeit ausgewertet. Methodisch setzt sich Weitkamp mit der gängigen Tätertypologie (Weltanschauungstäter, utilitaristisch Motivierte, Exzesstäter und einfache Befehlsempfänger; S. 37) auseinander, um sie am Ende als ein zu grobes Raster zu deklarieren. Er plädiert dafür, auch jenen Typus ,,der nicht direkt an der Vernichtung Beteiligten auf den einzelnen Verwaltungsebenen" (S. 465) zu untersuchen. Möglicherweise muss die Typologie noch weiter differenziert werden, je mehr staatliche und nicht-staatliche Organisationen im ,Dritten Reich' wissenschaftlich untersucht werden.

Worum geht es dem Autor in den drei Teilen seiner Untersuchung (,,Karrieren", ,,Innenansichten der Verbrechensbürokratie" und ,,Nachkriegskarrieren")? Es geht ihm zum einen um die Nachzeichnung der freiwilligen ,,Zuarbeit", die herausgehobene Angehörige des Auswärtigen Amtes gegenüber den faktischen Judenvernichtern des Reichssicherheitshauptamtes leisteten. Zum anderen geht es Weitkamp um die Darstellung des Versagens von Justiz und Politik sowie um die Aufdeckung jener Netzwerke, die nach 1945 den ,,Schreibtischtätern" Horst Wagner und Eberhard von Thadden halfen, einer meist zurückhaltenden oder überforderten deutschen Justiz zu entkommen.

Die Protagonisten hätten nicht unterschiedlicher sein können: Hier Horst Wagner, 1906 in Posen in eine Offiziersfamilie hineingeboren, der einen oft unterbrochenen Lebenslauf ohne Abitur, aber mit gefälschten Examensurkunden aufwies, bis er - nach einem abgebrochenen Studium der Zeitungswissenschaft in Berlin - über die Dienststelle Ribbentrop in das Auswärtige Amt (1938) gelangte. Er stieg dank seiner persönlichen Kontakte zu Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler, für die sein Eintritt in die SS (1936) und in die NSDAP (1937) nützlich waren, bis zum Leiter der Referatsgruppe ,,Inland II" auf. - Dort Eberhard von Thadden, 1909 in Berlin in eine alte adlige Offiziersfamilie hineingeboren, der noch vor dem Abitur der Deutschnationalen Volkspartei (1926) beitrat und nach einer kaufmännischen Lehre ein Jura-Studium in Freiburg im Breisgau begann. Nach dem ersten Examen trat er bereits 1933 in die NSDAP und in die SA ein und schrieb bei dem wissenschaftlich anerkannten Völkerrechtler Herbert Kraus seine Dissertation (ein anderer Kraus-Doktorand war Adam von Trott zu Solz!). Thadden veröffentlichte sie 1934, nicht ohne sie im NS-Sinne zu überarbeiten, insbesondere sich auf Alfred Rosenbergs Rassenideologie stützend. Der in Europa und im Orient Weitgereiste studierte während seiner Assessorzeit zusätzlich an der Berliner Hochschule für Politik, u.a. bei dem erklärten Antisemiten Johann von Leers und Albrecht Haushofer, dem später opponierenden Sohn des Geopolitikers Karl Haushofer. Durch Albrecht Haushofers Empfehlung kam Thadden 1936 zur Dienststelle Ribbentrop, wo er Wagner traf. Beide traten denn auch gemeinsam - wie es in NS-Organisationen üblich gewesen zu sein scheint - in die SS ein (Thadden mit der Mitgliedsnummer 276.846; Wagner mit der Nummer 276.847; S. 57). Anders als Wagner absolvierte Thadden eine Attaché-Ausbildung, nachdem er mit sehr guten Zeugnissen der Dienststelle Ribbentrop Ende 1937 im Auswärtigen Amt aufgenommen worden war. Während sein Vorgesetzter Wagner als enger Vertrauter von Ribbentrop den Kontakt zu Himmler und anderen NS-Größen hielt und es bis zum Vortragenden Legationsrat und SS-Obersturmbannführer brachte, erklomm sein Stellvertreter in der Referatsgruppe ,,Inland II", Eberhard von Thadden, die Stufe eines Legationsrates. Als gebildeter Verwaltungsbeamter war Thadden seit 1943/44 der ,,Judenreferent" des Auswärtigen Amtes. Damit war auf der Leitungs- und auf der ausführenden Ebene sichergestellt, dass das Auswärtige Amt weitgehend ,effizient' mit dem Reichssicherheitshauptamt und der Wehrmacht bei der Planung, Durchführung und Verschleierung der Judenvernichtung in den besetzten bzw. befreundeten Ländern zusammenarbeiten konnte.

Weitkamp beschreibt im Einzelnen die tägliche Arbeit und macht die persönliche Verstrickung von Wagner und Thadden im Prozess der Ermordung der europäischen Juden sichtbar, wovon sich die beiden nach dem Krieg distanzierten. Ausführlich geht er z.B. auf die Tagung im oberschlesischen Krummhübel von Anfang April 1944 ein (S. 275ff.). Dort trafen sich auf Initiative Wagners und mit tatkräftiger Unterstützung Thaddens außer den Vertretern der Berliner Zentrale jene AA-Angehörige, die in ihren Missionen für die Behandlung der ,,Judenfrage" in den betroffenen Ländern zuständig waren. Adolf Eichmann musste seitens der SS die Teilnahme kurzfristig absagen. Er und sein Sonderkommando waren zu der Zeit in Budapest, ,,um die Besatzungsgebiete ,judenfrei' zu machen"(S. 277). In den Ergebnissen der Tagung verabredeten die AA-Diplomaten, sowohl die antijüdische Propaganda und die Verschleierung der deutschen Verbrechen zu intensivieren als auch die antijüdischen Maßnahmen in den jeweiligen Ländern zu unterstützen. Knapp zwei Monate später holte Thadden die Konsultation der SS nach und schrieb über seinen Besuch in Budapest Ende April 1944: ,,Mittags war ich Gast von Eichmann und seinen Herren"(S. 290).

Auf höchster Ebene war es Wagner, der sich in jener Zeit, als nach der Besetzung Ungarns im März 1944 die Vernichtung der dortigen Juden vorangetrieben wurde, mehr als 16-mal persönlich mit Himmler traf. Um die Deportationen abzuschirmen, entsandte Thadden einen Mitarbeiter als Verbindungsmann des AA zu den SS-Stellen in Budapest.

Spannend liest sich die detaillierte Darstellung Weitkamps des Falls ,,Mesny". Hierbei zeigt er, wie auch das AA in die Ermordung des kriegsgefangenen französischen Generals Mesny durch die SS verstrickt war, ein Verbrechen, das auf einen persönlichen Befehl Hitlers hin noch am 19. Januar 1945 verübt wurde.

Im letzten Teil der Arbeit zeichnet Weitkamp die unterschiedlichen Wege nach, die Wagner und Thadden nach 1945 nahmen. Der Erstere floh mittels eines Netzwerkes ins Ausland und kehrte erst 1956 nach Deutschland zurück, tatkräftig unterstützt von dem nicht minder belasteten FDP-Politiker und Rechtsanwalt Ernst Achenbach (3), und musste sich mühsam durchschlagen. Seinem ehemaligen Mitarbeiter Thadden, der nach kurzer Inhaftierung 1949 auch bei Achenbach eine Anstellung gefunden hatte, gelang anschließend eine steile Karriere als Wirtschaftsführer in Westdeutschland. Weitkamp schildert ausführlich die wiederholten Versuche der deutschen Justiz, die beiden als Helfer bei der Judenvernichtung zu überführen. Er verweist einerseits auf die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den alliierten und den deutschen Gerichten und andererseits auf die Auswirkungen des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Ohne verurteilt worden zu sein, kam 1964 Thadden bei einem Autounfall ums Leben. 1977 starb Wagner, nachdem drei Jahre zuvor das Strafverfahren gegen ihn wegen Krankheit vorläufig eingestellt worden war.

Zu Recht schließt sich Weitkamp der kritisch-resignativen Äußerung Robert Kempners an: ,,Die Akten Horst Wagner sind eine Fibel für Jurastudenten. Wie kann man bewußt oder unbewußt einen Prozeß hinauszögern?" (4) Der Autor kritisiert mit noch größerer Berechtigung die deutsche Nachkriegspolitik und die mediale Öffentlichkeit (S. 460ff.).

Insgesamt handelt es sich um ein sorgfältig recherchiertes Werk, das die ,effiziente' Beihilfe von NS-Seiteneinsteigern und den meist ebenso kooperativen Karrierediplomaten des deutschen Auswärtigen Amtes bei der Judenvernichtung dokumentiert, denen nach dem Zusammenbruch von 1945 nicht nur das individuelle Unrechtsbewusstsein fehlte, sondern denen auch nicht mehr der Prozess gemacht wurde. Für den allgemeinen Leser nützlich sind im Anhang das ausführliche Abkürzungsverzeichnis, die Aufführung der Dienstgrade von SS und Wehrmacht sowie der Amtsbezeichnungen im Auswärtigen Amt. Ein zuverlässiges Quellen- und Literaturverzeichnis sowie das Personenregister runden die Arbeit von Sebastian Weitkamp ab.

Ekkehard Henschke, Oxford/Berlin

Fußnoten:


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