ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009, 447 S., kart., 34,90 €.

Der ausgebildete Jurist Ernst Freaenkel (1898-1975) gilt als einer der Väter der modernen deutschen Politikwissenschaft. Die von Wilhelm Bleek und Hans Lietzmann 2005 publizierte Übersicht zu Klassikern des Faches nahm ihn sogar in diesen Kanon auf. Die Gesamtausgabe von Fraenkels Schriften liegt seit 2007 in acht großformatigen Bänden vor. Doch trotz einer Reihe von Einzelstudien, Sammelbänden und Festschriften gab es bislang keine detaillierte Biographie dieses Wissenschaftlers. Das vorliegende Buch schließt diese Lücke.

Der aus Köln stammende Fraenkel wuchs nach dem frühen Tod der Eltern und des Bruders bei Verwandten in Frankfurt am Main im fortschrittlichen, agnostisch gesinnten jüdischen Bürgertum auf. Dem Notabitur folgte zwischen 1916 und 1918 der Kriegsdienst an der Westfront. Dort rettete Fraenkel seinem Freund Adolf Reichwein nach dessen Verwundung das Leben, indem er ihn aus dem Schussfeld trug. Bei Kriegsende war Fraenkel Mitglied eines Soldatenrats und nahm daran anschließend das Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Frankfurt auf, das er nach einem Abstecher ins nahe Heidelberg 1921 mit dem ersten Staatsexamen abschloss. Sein wichtigster Lehrer war der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer. Zu Fraenkels Kommilitonen zählten der lebenslange Freund Otto Kahn-Freund sowie Franz Neumann, Leo Löwenthal und Carlo Schmid. Die in entsprechenden Debatten empfangenen und vermittelten Anregungen lassen sich erahnen.

Unter Sinzheimers Einfluss trat Fraenkel der SPD bei. Er verstand sich in der Weimarer Republik als Marxist, aber keineswegs als Revolutionär. Vielmehr sah er seine doppelte Aufgabe in der Arbeiterbildung und als Anwalt der Lohnabhängigen. So spezialisierte er sich auf das Arbeitsrecht und wurde Ende 1922 mit der Dissertation ,,Der nichtige Arbeitsvertrag" promoviert. Danach war er Assessor in einer Saarbrücker Anwaltskanzlei sowie Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiterverbands, bevor er sich 1927 als Rechtsanwalt niederließ. Teilhaber der Berliner Anwaltskanzlei war Franz Neumann. Daneben arbeitete Fraenkel in Bad Dürrenberg (bei Halle an der Saale) als Lehrer der dortigen Gewerkschaftsschule sowie (was im Buch von Simone Ladwig-Winters nicht erwähnt wird) als regelmäßiger Vertretungsdozent der Heimvolkshochschule Tinz bei Gera. In zahlreichen Publikationen, darunter seine Schrift zur ,,Soziologie der Klassenjustiz" (1927), entwickelte und verfocht Fraenkel den Gedanken, dass das moderne Arbeitsrecht einer oft behaupteten Gleichsetzung von Staat und Gesetz entgegen stehe; entscheidend sei vielmehr die Rolle der Tarifparteien.

Das Jahr 1933 wurde auch für Fraenkel zum Einschnitt seines Lebens, obgleich er durch das sogenannte Frontkämpferprivileg (das jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs vom Berufsverbot vorerst ausnahm) bis 1938 als Rechtsanwalt arbeiten durfte. Allerdings musste er sich auf jüdische Mandanten beschränken. Detailliert untersucht die Autorin die immer schwieriger werdenden Lebensumstände, angesichts derer Fraenkel aber niemals aufgab, sondern sich als illegal tätiger Widerstandskämpfer, so im Internationalen Sozialistischen Kampfbund, dem Unheil entgegen zu stemmen suchte.

Im September 1938 mussten Ernst Fraenkel und seine Frau Hanna emigrieren. Über London gelangten sie in die USA, wo bereits Fraenkels Schwester lebte, die das notwendige Affidavit besorgt hatte. Für den angestrebten Wiedereinstieg in den Justizdienst aber war ein erneutes Vollstudium nötig. Unter großen Entbehrungen und mit selbstloser Unterstützung seiner Frau absolvierte Fraenkel dieses in Chicago und schloss es bereits 1941 mit dem Juris Doctor ab, der aber, anders als Simone Ladwig-Winters schreibt, nicht mit dem Doctor of Law identisch ist (S. 163). Dieser (niedrigere) Abschluss ermöglichte Fraenkel die erneute Zulassung als Anwalt, und er konnte zeitweilig in einer Kanzlei in Washington arbeiten. Weiterhin gab er einige Kurse an der New School for Social Research, übrigens auch an deren französischsprachiger Abteilung, der Université libre, sowie an den Universitäten Yale und Rutgers wie auch an der University of Virginia.

1941 veröffentlichte Ernst Fraenkel das großteils noch in Deutschland geschriebene Werk ,,The Dual State", das der Soziologe Edward Shils übersetzte. Darin analysierte Fraenkel die Verbindung von Justiz und Politik im nationalsozialistischen Staat. Dieser war nach Fraenkel sowohl Normenstaat, der das Weiterfunktionieren des Systems für den nicht verfolgten Teil der Bevölkerung garantierte, wie auch Maßnahmestaat, der mit Rechtsvorschriften, aber auch mit bloßem, durchaus dosiertem Terror die als Feinde des Regimes denunzierten Gruppen drangsalierte. Neben dem kurz zuvor erschienenen ,,Behemoth" Franz Neumanns wurde Fraenkels Werk zur wegweisenden Strukturanalyse des ,Dritten Reiches' und erlangte als solche eine bleibende Bedeutung, was freilich erst allmählich sichtbar wurde. Die Autorin zeichnet die verwickelte Rückübersetzungs- und Rezeptionsgeschichte des erst 1974 als ,,Der Doppelstaat" auf Deutsch publizierten Werkes genau nach. Als Carnegie-Stipendiat schrieb Fraenkel danach ,,Military Occupation and the Rule of Law", ein Buch über die amerikanische Rheinlandbesetzung nach 1918, und warnte vor der Wiederholung damaliger Fehler (wozu übrigens auch die erzwungene Prohibition gehörte).

Der zunehmend angestrebte Wechsel zur akademischen Tätigkeit gelang Fraenkel jedoch noch nicht. Ab 1945 war er zunächst als Rechtsberater des US-Militärs in Korea tätig. Dort kritisierte er die Versäumnisse bei der Herausbildung eines eigenständigen koreanischen Justizapparates. Das Korea-Kapitel erschließt weitgehend neues Material und gehört zu den informativsten und besten Teilen des Buches.

1951 ging Fraenkel dann, keineswegs ohne Vorbehalte, zurück nach Deutschland, denn in Westberlin suchten Franz Neumann und Otto Suhr nach geeigneten Köpfen zum Aufbau der Politik- als Demokratiewissenschaft. Fraenkel wurde zunächst Dozent an der wieder gegründeten Deutschen Hochschule für Politik und übernahm 1953 eine Professur an der Freien Universität.

Sein Name bleibt mit der von ihm formulierten Pluralismus-Konzeption verbunden. Diese betont die voneinander verschiedenen Interessen politischer Kräfte in der parlamentarischen Demokratie und sieht deren Artikulation und Durchsetzungsbestreben als legitim und erwünscht an. Dabei tritt neben die politischen Rahmenbedingungen, die von den Prinzipien der Freiheit und Toleranz bestimmt sein sollen, die Maxime der Subsidiarität. Diese stellt laut Fraenkel die politische und gesellschaftliche Eigenverantwortung vor das staatliche Handeln. Danach sind bei öffentlichen Aufgaben zuerst und im Zweifel untergeordnete, lokale Glieder wie Stadt oder Kommune (gegebenenfalls nichtstaatliche Gemeinschaften) für deren Lösung zuständig, während übergeordnete Glieder zurücktreten. Fraenkel verstand sein Werk als normativ. Sein Pluralismuskonzept sah er sowohl als Beitrag zum demokratischen Diskurs wie auch als kritische Analyse herrschender Verhältnisse. Leider hat Fraenkel diesen Teil seiner Forschungsarbeit nicht in einer systematischen Darstellung zusammengefasst, und die beiden Aufsatzsammlungen ,,Deutschland und die westlichen Demokratien" (zuerst 1963) und ,,Reformismus und Pluralismus" (1973) können diesen Mangel nicht völlig ausgleichen.

Seine schriftstellerische Tätigkeit verlagerte sich in Berlin zunehmend auf ein anderes Gebiet, nämlich auf die Frage nach dem Transfer demokratischer Ideen von Amerika nach Westdeutschland. Die Autorin würdigt mit Recht Fraenkels Bücher ,,Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens" (1959) und ,,Das amerikanische Regierungssystem" (1960) sowie die Breitenwirkung des von Fraenkel zusammen mit seinem wohl wichtigsten Schüler Karl Dietrich Bracher edierten ,,Fischer Lexikons Staat und Politik", das erstmals 1957 erschien. 1963 war Fraenkel Initiator und erster Direktor des John-F.-Kennedy-Instituts für Amerikastudien an der FU Berlin. Auch nach seiner Emeritierung 1964 setzte er seine Lehrveranstaltungen fort. Seine Bilanz wäre zufrieden ausgefallen, hätten nicht schwere Konflikte sein letztes Lebensjahrzehnt stark beeinträchtigt.

Zum Anstoß der Konflikte wurde Fraenkels politisches Versagen angesichts des Vietnam-Kriegs; ein Versagen, das die Autorin auch als ein solches deutlich macht. Anfang 1968, als kein human denkender Mensch mehr die Augen vor dem systematischen Einsatz des ,,Entlaubungsmittels" Agent Orange durch die US-Armee in Vietnam verschließen konnte, forderte Fraenkel disziplinarische Maßnahmen gegen den Assistenten Ekkehart Krippendorff. (vgl. S. 318 und 390). Dieser hatte genau diesen Einsatz als Kriegsverbrechen bezeichnet, und die Ereignisse gaben ihm voll Recht: Durch den unmittelbaren Einsatz des Giftgases starben Hunderttausende von Vietnamesen und die Nachwirkungen sind bei mindestens zwei Million Menschen zu beobachten, deren Erbgut auf Generationen hinaus unrettbar geschädigt bleibt.

Dass Fraenkel dies nicht zur Kenntnis nehmen wollte, zerstörte beinahe über Nacht seinen guten Ruf unter den Berliner Studenten, zumal unter deren gesellschaftskritisch eingestelltem Teil. Noch bis weit nach seiner Emeritierung war Fraenkel durchaus von Jüngeren um Rat gefragt worden, wenn es um politische und hochschulpolitische Fragen ging. Zwar hatte er sich einerseits unangenehme Ordinarien-Allüren zugelegt; so musste sich früh ein Assistent bei ihm einfinden und ihm die Aktentasche zur Universität tragen (und allein diese Begebenheit verdeutlicht den Nutzen der Studentenrevolte). Andererseits galt Fraenkel, obwohl nach der Rückkehr kein SPD-Mitglied mehr, jedoch durchaus als demokratischer Sozialist. Zwar hatte er die kapitalistische Privatwirtschaft als gegeben akzeptiert, sah aber die Gesetze des Marktes keineswegs als unabänderliche und für alle Zeit gültige Naturgesetze an. Übrigens zeigt dies auch einen kleinen Fehler im Buch, trägt doch die Überschrift zum sechsten Kapitel den Titel ,,Ernst Fraenkel in der Bundesrepublik". Doch der wichtige Unterschied zwischen der Bundesrepublik und Berlin bestand gerade darin, dass im Westteil Berlins von Anfang an eine pluralistische Art von Politikwissenschaft vermittelt werden konnte, die marxistische Ansätze keineswegs aussparte. Dies aber war im restaurativen Klima bundesdeutscher Politikwissenschaft, gar unter Fachvertretern wie Arnold Bergstraesser in Freiburg, so nicht möglich.

Doch 1968 wurde Fraenkel für die protestierenden Studenten zum Inbegriff des reaktionären Mandarins. Damit taten sie ihm Unrecht, und Fraenkel litt den Rest seines Lebens sehr unter diesem Vorwurf. Im Rückblick aber darf man sagen, dass im Werk Fraenkels, alles in allem, eine imponierende, dabei keineswegs widerspruchsfreie Lebensleistung vorliegt. Doch welche interessante Persönlichkeit, zumal in einem Jahrhundert gewaltigster Umbrüche und Katastrophen möchte von solchen Widersprüchen frei sein? ,,Für Fraenkel war die soziale Gerechtigkeit immer eines der obersten Ziele, aber es war gleichzeitig für ihn völlig unstrittig, dass dies nie auf Kosten individueller Freiheit erreicht werden dürfte", schreibt seine kenntnisreiche Biographin (S. 324). In der Tat: Die Lektüre dieses gut geschriebenen Buches sollte auch dazu anregen, erstmals oder wieder eine der Arbeiten Ernst Fraenkels zur Hand zu nehmen. Es lohnt noch immer, das eigene Denken an ihnen zu schärfen.

Mario Keßler, Potsdam


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 15. August 2009 (Korrektur: 10.2.2010)