ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Natonek/Wolfgang Natonek, Briefwechsel 1946-1962, hrsg. und kommentiert von Steffi Böttger, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2008, 221 S., geb., 19,90 €.

Was für eine Familiengeschichte! Der Vater, Hans Natonek (1892-1963), Repräsentant der einzigartigen Prager deutsch-jüdischen Symbiose, ein in den 1920er Jahren bekannter Journalist und Romanautor, der als konvertierter Jude bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung als Feuilletonchef der Neuen Leipziger Zeitung entlassen wird, 1935 mit seiner zweiten Ehefrau aus Deutschland flieht und nach Zwischenstationen in Prag, Paris und New York 1941 in Tucson, Arizona, landet, wo er nach langer Krankheit vom deutschen Literaturbetrieb vergessen stirbt. Der Sohn, Wolfgang Natonek (1919-1994), der mit seiner Mutter, Natoneks erster Frau, in Leipzig bleibt, wegen seines Vaters selbst diskriminiert wird, nach dem Ende des Nationalsozialismus aktives Mitglied der neu gegründeten Liberaldemokratischen Partei und 1947/48 populärer Vorsitzender des Studentenrats der Leipziger Universität, in dieser Funktion wegen seiner Kritik an der Hochschulpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach achtjähriger Haft in Torgau und Bautzen freigelassen. Während der Haft Kontakt mit Walter Kempowski, dem Natonek Französischunterricht gibt - und wie Kempowski geht Wolfgang Natonek nach seiner Freilassung rasch in die Bundesrepublik, beendet sein Studium und arbeitet als Lehrer. Zwischen 1938 und 1946 kein Kontakt zwischen Vater und Sohn, keine Informationen über den Verbleib des anderen; dann ein regelmäßiger Briefwechsel, aber nur noch eine einzige persönliche Begegnung im Jahr 1957, als Hans Natonek zum ersten und letzten Mal nach seiner Emigration wieder nach Europa reiste.

Der vorliegende Band, im Leipziger Lehmstedt Verlag erschienen, der 2006 bereits eine Auswahl aus Hans Natoneks Zeitungsartikeln der Jahre 1914 bis 1933 vorlegte, dokumentiert den - leider nur teilweise erhaltenen - Briefwechsel zwischen Vater und Sohn sowie einige andere Briefe an die und von den beiden. Informativ eingeleitet von Steffi Böttger schlägt der Band eine Brücke zwischen zwei selten zusammengebrachten Gruppen, dem eher unpolitischen und nie wirklich assimilierten Teil des Exils und der studentischen Opposition in der frühen DDR, und ermöglicht so einen ganz besonderen Blick auf die Abgründe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Umgang mit diesen.

Am Anfang des Briefwechsels stehen lange Briefe, in denen Wolfgang Natonek seinem Vater berichtet, wie seine Mutter, seine Schwester und er die NS-Zeit mehr schlecht als recht als ,,Fremde in der Heimat" überstanden haben, und zugleich die intellektuelle und politische Aufbruchstimmung der jungen Generation beschreibt. Mit der Verhaftung von Wolfgang Natonek bricht der Briefwechsel erneut ab. Während der Haftzeit tauscht sein Vater mit Mitstreitern seines Sohnes Informationen aus und versucht gemeinsam mit diesen durch Interventionen bei so unterschiedlichen Personen wie Bundespräsident Theodor Heuss, Martin Niemöller und - über gemeinsame Bekannte aus der Emigration - sogar bei Johannes R. Becher, Unterstützung für Wolfgang Natonek zu mobilisieren. Die Unsicherheit über das Schicksal des Verhafteten ist groß, Gerüchte machen die Runde, und niemand weiß, wie ihm am besten zu helfen ist.

Nach Wolfgang Natoneks Freilassung nehmen die Schwierigkeiten des Vaters als ,,Heimatloser in der Fremde", wie sein Sohn einmal schreibt, größeren Raum ein. Hans Natonek äußert Verständnis für diejenigen, die sich, wie Erich Kästner, gegen das Exil entschieden haben. ,,Exil ist keine Lösung. Die Sprache wandert nicht aus [...] ich habe es an mir selbst erlebt, mit allen Konsequenzen". Hans Natonek bemüht sich, an seine alten Publikationen zu kommen und Veröffentlichungsmöglichkeiten in Deutschland zu finden. Er diskutiert mit seinem Sohn den Titel seiner im Exil veröffentlichten Romanbiographie Adelbert Chamissos, seines einzigen zu seinen Lebzeiten nach 1945 in Deutschland - in einer Buchclubausgabe - wiederveröffentlichten Buchs, und versucht, Hans für eine publizistische Laufbahn zu gewinnen. Wolfgang Natonek bleibt jedoch skeptisch. Zwar engagiert er sich weiterhin politisch, als gebranntes Kind zweier Diktaturen ist er jedoch auch um die Sicherung seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit bemüht. Entsprechend entscheidet er sich für die Fortführung seines Studiums - nicht ohne schlechtes Gewissen, dass seine Frau trotz verschiedener staatlicher Beihilfen und der Unterstützung seitens der Göttinger Universität in dieser Zeit zu seinem Lebensunterhalt beitragen muss.

Frank Bönker, Leipzig


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