ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Helke Stadtland (Hrsg.), ,,Friede auf Erden". Religiöse Semantiken und Konzepte des Friedens im 20. Jahrhundert (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 12), Klartext Verlag, Essen 2009, 306 S., brosch., 29,95 €.

Der mit dem Holzschnitt Otto Pankoks ,,Christus zerbricht das Gewehr" (1950) illustrierte und sorgfältig edierte Sammelband vereint neben der Einleitung der Herausgeberin Helke Stadtland zwölf Beiträge v.a. jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Geschichte, Kirchengeschichte, Theologie und Rechtswissenschaft, die auf der Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung ,,Religiöse Semantik des Friedens" im November 2006 in Bochum referierten.

Helke Stadtland betritt mit der Thematik der religiösen Semantiken und Friedenskonzepte im 20. Jahrhundert ein neues Forschungsfeld. In sympathischer Selbstbescheidung spricht der Klappentext daher von ,,ersten Einsichten", die der Tagungsband liefere. Im ersten Teil gibt Stadtland einen knappen historischen Überblick und entfaltet anschließend theoretische und methodische Überlegungen. Obgleich im Friedensdiskurs des vorigen Jahrhunderts deutliche Rückgriffe auf eine religiöse Semantik zu finden sind, blieb die eingehende Untersuchung ihrer historisch wandelbaren Bedeutung, Funktion und Wirkung bislang aus, ja sie wurde durch die dominante Thematik eines Zusammenhangs von Religion und gewaltsamer Praxis bzw. der Instrumentalisierung von Religion für Gewalt überdeckt. Auch die säkulare Friedensbewegung nutzte religiöse Begriffe, Symbole und Topoi oder sakralisierte die eigenen Höchstwerte gesinnungsethischer Positionen, womit eine Anschlussfähigkeit religiös motivierter Menschen für die Bewegung begünstigt werden konnte. Als Desiderate mahnt Stadtland insbesondere die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung zentraler Begriffe und Wortfelder sowie möglicher Ersatz- und Gegenbegriffe an, ebenso wie die Untersuchung der Friedensdiskurse und ihrer Akteure, Gruppen und Bewegungen, der spezifischen Kommunikationsformen und des jeweiligen Kontextes.

Volkhard Krech liefert in seinem Tagungskommentar einige systematisierende Überlegungen. Er plädiert für eine Kontextdifferenzierung je nach Verwendung religiöser Semantiken. Einerseits gibt es den genuin religiös bestimmten Kontext, andererseits Interferenzen zwischen Religion und Politik oder auch eine Polykontextualität sowohl religiöser als auch politischer Semantik. Schließlich hebt sich von den übrigen Formen die Sakralisierung nicht religiös bestimmter Sachverhalte durch eine Aura der Unverfügbarkeit ab. Da die benannten Desiderate des neuen Forschungsfeldes noch eingehender wissenschaftlicher Untersuchung harren, fungieren die Beiträge des Bandes vor allem als Pilotstudien, bei denen sich der Ertrag künftiger Studien abschätzen lässt.

Im zweiten Teil, der das ,,Zeitalter der Weltkriege" umgrenzt, sind die Themen überwiegend aus genuin religiösen Kontexten gewählt. Jörg Seiler befasst sich mit begriffsgeschichtlichen Beobachtungen bezüglich päpstlicher Marienenzykliken (1854-1954). Maria wurde von einer ,,Vermittlerin" des Friedens zu einer ,,Spenderin des Friedens", die auch für den Völkerfrieden zuständig war. Daher wurde die Marienverehrung den Soldaten empfohlen. Der religiöse Friedensbegriff erlangte einen umfassenden Sinn als ,,überstaatlicher der Waffen" und als ,,individualisierter der Seelen". Dessen ungeachtet fanden gerade in den Marienenzykliken militärische Wortfelder und Sprachbilder Verwendung. Marie-Emmanuelle Reytier widmet sich Katholikentagen der Weimarer Republik. Im Vergleich der Positionen prominenter Redner wie Konrad Adenauer, Kardinal Michael von Faulhaber und Karl zu Löwenstein zeichnet sich eine grundverschiedene Friedenskonzeption ab. Während Adenauer sich auf den Boden der Tatsachen stellte, um zu Dialog, Völkerversöhnung und gelebter Friedenspflicht der Katholiken aufzurufen, werteten Faulhaber und Löwenstein nach wie vor den Krieg als solchen positiv, verurteilten die Republik, den Versailler Friedensvertrag und den Völkerbund und erwarteten allein von der ,,Gnade Gottes" und der Universalität der katholischen Kirche und des Papstes als ,,Friedensmacht" individuelle und friedenspolitische Fortschritte. Alf Christophersen analysiert Konzepte von Vertretern der Lutherrenaissance von der Weimarer Republik bis in die NS-Zeit. Aus ihnen ragt Emmanuel Hirsch heraus, dessen pro-nationalsozialistische Position und Hitlerverehrung in schärfstem Gegensatz zum Pazifismus - ,,Friedensideologie" - standen, um demgegenüber den Krieg als Bestandteil der ,,göttlichen Schöpfungsordnung" zu rechtfertigen. Till Kössler öffnet den Blick zum spanischen Katholizismus, der jede Form von Gewalt gegen die regierende Volksfront durch den Putsch der Generalität, den Bürgerkriegskampf 1936 bis 1939 und die Behandlung der Verlierer in der Francozeit legitimierte. Der Friedensbegriff verknüpft den individuellen Frieden aufgrund sittlich-religiös geforderten Verhaltens, den daher auch der Soldat im Krieg finden sollte, mit der daraus erwachsenden harmonischen, gottgewollten Gesellschaftsordnung und dem ,,Friedenswerk" der Kirche an den Bürgerkriegsverlierern durch Umerziehung und ,,Läuterung", d.h. durch Repression, Gefängnis, Lager und Zwangsarbeit. Christian Scharnefsky betrachtet den aktiven internationalen Pazifismus zwischen 1920 und 1950 bei den säkularen ,,War Resisters International" (WRI) und deren Beziehungen zu religiösen Pazifisten: den ,,Quäkern" und dem ,,International Fellowship of Reconciliation". Obgleich säkular geprägt, benutzten die WRI in ihrer Friedenssemantik Begriffe wie ,,Heiligkeit" menschlichen Lebens, wodurch sie offen blieben für religiös motivierte Gruppen, mit denen sie immer wieder bei politischen Initiativen und durch gemeinsame Manifeste an die Öffentlichkeit traten.

Im dritten Teil, der die ,,Periode des Kalten Krieges" umfasst, werden Politiker, Organisationen und Initiativen aus Großbritannien, den beiden deutschen Staaten und den Niederlanden berücksichtigt. Janosch Steuwer und Jürgen Mittag stellen die Friedensprogrammatik und Semantik der sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Johannes Rau sowie der Bundeskanzler Willy Brandt (Friedensnobelpreis), Helmut Schmidt und Gerhard Schröder einander gegenüber. Bei Heinemann und Rau (,,Versöhner") findet sich eine explizit religiöse Friedenssemantik, bei Brandt die Verbindung von Frieden und moralischer Sphäre, nicht zuletzt auch die Symbolhandlung mit religiösem Bedeutungsgehalt (,,Kniefall" in Warschau), bei Schmidt und Schröder stehen ,,Sicherheit" und Kriegsverhinderung bzw. ,,Friedensmissionen" durch Bundeswehreinsätze im Vordergrund. Holger Nehring findet bei britischen und westdeutschen Protesten gegen Atomwaffen in den Jahren 1957 bis 1983 (,,Campaign for Nuclear Disarmament", ,,Ostermärsche") Interferenzen religiöser und moralischer Elemente in deren Semantiken des Friedens und wertet deren Funktionsweise nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg als ,,Sicherheitstherapien". Nehring berücksichtigt neben Texten (Reden, Programmen) auch Fotos, Plakate, Werbespots, Lieder und symbolische Handlungen (Menschenketten und anderes), so dass er gerade mit der Analyse einer Bandbreite von Kommunikationsebenen und -formen seine These überzeugend zu stützen vermag. Die letzten drei Beiträge betreffen genuin religiöse Kontexte der 1980er Jahre. Anke Silomon verdeutlicht in ihrer Fallstudie zur evangelischen Friedensbewegung in der DDR, wie das biblische Friedenssymbol der ,,Schwerter zu Pflugscharen" trotz des Rückgriffs auf die gleichnamige Plastik, die von der Sowjetunion 1959 den Vereinten Nationen geschenkt worden war, zum Konfliktherd mit der SED wurde. Diese beanspruchte die Wesenseinheit von Sozialismus und Frieden, der demzufolge auch bewaffnet zu verteidigen war, wohingegen die Friedensbewegung für einen zivilen Wehrersatzdienst und Abrüstung eintrat und propagierte: ,,Frieden schaffen ohne Waffen!". Katharina Kunter nimmt heterogene protestantische Diskurse in den Blick, die in den konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung mündeten, ohne dass eine einheitliche, protestantische Strategie oder Semantik des Friedens vertreten wurde. Ulrich Wenner beschreibt abschließend als Zeitzeuge pazifistische Aktivitäten der katholischen ,,Initiative Kirche von unten".

Die besprochenen Beiträge des Bandes lassen als Pilotstudien bereits erkennen, wie ertragreich eine umfassendere Erforschung religiöser Semantiken und Konzepte des Friedens bezogen auf eine konkrete Persönlichkeit, Institution, Gruppe oder Bewegung sein müsste. Konkret gesagt: Wäre nicht angesichts der Kontroverse um Erika Steinbach (CDU), den ,,Bund der Vertriebenen" und das ,,Sichtbare Zeichen" in Berlin gerade die Analyse der ,,Friedenssemantiken" ein erhellender Zugang?

Antonia Leugers, München


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