ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente, hrsg. von Wladislaw Hedeler und Alexander Vatlin, Akademie-Verlag, Berlin 2008, 440 S., geb., 98,00 €.

Vor über 90 Jahren, im März 1919, wurde in Moskau die Kommunistische Internationale (Komintern) gegründet. In den wenigen Jahren ihrer bis 1943 andauernden Existenz hat sie polarisiert und als Projektionsfläche gedient - ihre Gegner nahmen sie als fortwährende Bedrohung des Abendlandes wahr, als konspirative und krakenhafte, weltweit agierende Organisation, verantwortlich für so gut wie jeden gesellschaftlichen Unruheherd; für ihre Anhänger war sie nichts weniger als die internationale organisatorische Verkörperung desjenigen Modells, das 1917 erstmals und siegreich die sozialistische Revolution erkämpft und verteidigt hatte.

Umso interessanter ist es, einen genaueren Blick auf die komplexe Entstehungsgeschichte dieser von Anfang an russisch dominierten, gleichwohl dennoch internationalen Organisation zu werfen. Ein offizielles Stenogramm des ersten internationalen kommunistischen Kongresses existiert nicht, wohl aber wurde ein Protokoll erstmals 1920 auf der Grundlage von Notizen und Typoskripten der gehaltenen Reden in deutscher Sprache veröffentlicht. Die aufgewühlten politischen Verhältnisse des Jahres 1919, unmittelbar nach dem Ende des ,,Großen Krieges", inmitten der Wirren des russischen Bürgerkriegs und der revolutionären Nachkriegskämpfe in Mittel- und Osteuropa, spiegeln sich nahezu auf jeder Seite des Protokolls dieser ,,ersten internationalen kommunistischen Konferenz", die erst im Nachhinein zum offiziellen Gründungskongress der Komintern deklariert wurde.

Wladislaw Hedeler und Alexander Vatlin, beide langjährige und ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der Kominternforschung, kommt das große Verdienst zu, dieses außerordentliche historische Dokument der Öffentlichkeit wieder vorgelegt zu haben. Dabei wurde die (für sich allein schon lesenswerte) Ausgabe von 1920 umfangreich ergänzt, zum einen um seinerzeit unberücksichtigte Materialien (etwa verlesene Briefe, Beschlüsse), zum anderen um die sogenannten ,,Länderberichte", die während der Konferenz selbst nicht zum Vortrag gekommen waren. Bestandteil der Edition sind weiterhin wesentliche Dokumente, die im Vorfeld der Konferenz entstanden sind und die Aufschluss über die Hintergründe der Entstehung der ,,neuen" Internationale geben. Abschließend beleuchten weitere, z.T. sehr bemerkenswerte Dokumente aus der Zeit nach der Konferenz die Reaktionen von Gegnern und Anhängern der Komintern auf ihre Gründung. Die veröffentlichten Dokumente stammen fast sämtlich aus den Beständen des Russischen Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) bzw. sind zeitgenössischen Publikationen entnommen.

In einer umfassenden Einleitung informieren die Herausgeber über die komplexe Vorgeschichte des ,,Gründungskongresses" auf der Basis der neuesten Literatur und der heute zugänglichen Quellen und tilgen dabei so manchen noch vorhandenen ,,weißen Fleck" der Kominterngeschichte, so etwa das korrekte Datum der Einberufung (2. März), die Autorenschaft des Gründungsaufrufs (Bucharin, nicht Trockij), oder den Umstand, dass der erste Vorsitzende, Zinov'ev, keineswegs auf der Konferenz zum Vorsitzenden gewählt, sondern im Nachhinein gleichsam bestimmt wurde. Vor allem aber weisen sie nach, dass der Beschluss, möglichst schnell eine Konferenz zusammenzurufen und auf dieser die neue, III. Internationale zu gründen, maßgeblich dem Drängen Lenins zuzuschreiben ist. Für Ende Januar 1919 hatten Vertreter der seit August 1914 paralysierten II. Internationale zur ersten internationalen sozialistischen Konferenz nach dem Krieg in Bern eingeladen. (1) Der damit drohenden Reaktivierung der (aus Sicht der radikalen Linken) ,,bankerotten II. Internationale" wollte Lenin unbedingt zuvorkommen. Er habe die internationale revolutionäre Bewegung schnellstmöglich einigen wollen, um, so die Herausgeber, ,,missionarisch die russischen Erfahrungen im Weltmaßstab [zu] vermitteln" (S. XXVII). Dabei beharrte er auf der strikten Trennung sowohl von den ,,Sozialpatrioten" (also den Anhängern der Burgfriedenspolitik) als auch von den sogenannten ,,Zentristen", also denjenigen Sozialisten, die zwar Gegner der Burgfriedenspolitik gewesen waren, aber dem bolschewistischen Modell kritisch gegenüberstanden: ,,Der Weg zur Macht für das Proletariat ist der Weg des unversöhnlichen Kampfes gegen die Sozialverräter", wie Lenin in einem ersten Aufruf zur Konferenz (25. Dezember 1918) markig formulierte.

Ein Grund für Lenins Eile war daneben das Scheitern des revolutionären Umsturzes in Deutschland im November/Dezember 1918 und - damit zusammenhängend - die sichere außenpolitische Isolation des jungen Sowjetstaates. Es war abzusehen, dass sich das Ende der militärischen Patt-Situation zugunsten der Alliierten negativ auf den Bestand Sowjetrusslands auswirken würde. Lenin rechnete (wie sich zeigen sollte: zu Recht) mit einer baldigen militärischen Intervention. Umso mehr war er an der Revolutionierung Westeuropas interessiert, die durch die Komintern vorangetrieben werden sollte.

Weder die Spartakisten, die die Gründung u.a. für verfrüht hielten, weil es noch nicht genügend kommunistische Parteien gab, noch der sowjetrussische Außenminister Čičerin, der die ideologische Bandbreite der Adressaten etwas breiter fassen wollte (Einschluss der Sozialrevolutionäre), konnten Lenin von seinem Vorhaben abbringen. Lediglich der Zeitpunkt der Konferenz wurde einige Wochen nach hinten verschoben, damit noch mehr Delegierte nach Moskau gelangen konnten - was angesichts des Bürgerkriegs kein leichtes Unterfangen war: Nur zwei der von außerhalb Russlands anreisenden Delegierten (Eberlein und Steinhard) gelangten rechtzeitig nach Moskau; die große Mehrzahl der Teilnehmer hatte sich schon vorher auf sowjetischem Territorium befunden. Entsprechend waren auch nur die wenigsten mit regulären Mandaten ihrer Organisationen ausgestattet. Ob die Konferenz wirklich als ,,Farce" (2) bezeichnet werden sollte, ist zu diskutieren. Ihre überstürzte Planung, die lückenhafte Zusammensetzung und das von den Bolschewiki organisierte ,,Drehbuch" der Konferenz legen eine solche Sichtweise nahe. Dagegen spricht aber der Umstand, dass die Gründung einer revolutionären, III. Internationale im Frühjahr 1919 gleichsam in der Luft lag und offensichtlich einem gerade in Europa verbreiteten Wunsch entsprach. De facto, so schrieb Lenin später selbst, sei die Kommunistische Internationale schon mit Gründung der KPD Wirklichkeit geworden (S. XXI). Dass es eine neue Internationale geben musste, darüber herrschte bei der radikalen Linken Konsens, fraglich waren der richtige Zeitpunkt und die konkrete Form, die, das zeigt die Dokumentenedition deutlich, durch die Initiative der Bolschewiki nun klar vorgegeben waren. Über die Aufgabe der neuen Internationale herrschte allseits Klarheit, wie Eberlein, der Delegierte der KPD während der Konferenz zusammenfasste: ,,Heute handelt es sich nicht mehr darum, sich auf Konferenzen über die Theorie des Sozialismus zu streiten [...]. Es handelt sich darum, das Proletariat aller Länder zur Tat zu führen." (S. 106). Die Komintern als eine rein russische Veranstaltung zu interpretieren, wie dies Hedeler und Vatlin nahe legen (S. XI), hält der Rezensent für zu weitgehend, da auf diese Weise alle außerhalb Sowjetrusslands existierenden Bestrebungen zugunsten einer III. Internationale zu wenig berücksichtigt werden, so kritisch diese (teilweise) auch der Dominanz der Bolschewiki gegenüber gestanden haben mögen.

Über die reichhaltige Quellendokumentation hinaus haben die Herausgeber es geschafft, beinahe alle Teilnehmer des Kongresses, Gäste und Delegierte, nicht nur zu identifizieren, sondern diese auch in Kurzbiografien in einem umfangreichen Anhang vorzustellen. Die einzelnen Biografien verdeutlichen das Übergewicht der russischen (bzw. den Bolschewiki sehr nahe stehenden) Delegierten. Sie zeigen aber auch, wie sehr viele Teilnehmer einen reichen internationalen Erfahrungshintergrund besaßen. Neben vielen bisher unbekannten, aussagekräftigen Fotos sind zuletzt das informative Glossar und die umfassende Bibliografie zur Entstehungsgeschichte der Komintern hervorzuheben, die auch die hierzulande nur wenig wahrgenommene russische Literatur berücksichtigt. Hedeler und Vatlin haben mit dieser hervorragenden Dokumentenedition einen Maßstab gesetzt, der kaum übertroffen werden dürfte. Für die zukünftige Forschung zur Geschichte der Komintern ist dieser Band schlicht unverzichtbar.

Joachim Schröder, Düsseldorf

Fußnoten:


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