ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Ranft/Stephan Selzer (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 288 S., brosch., 26,90 €.

,,Städte aus Trümmern", nicht ,,Städte in Trümmern" - der Titel des hier besprochenen Werkes ist Programm, denn den Herausgebern und Autoren geht es nicht nur um den Akt der Zerstörung, sondern auch und gerade um den Wiederaufbau von Städten nach einer Katastrophe. Damit füllt der Band eine Forschungslücke an der Schnittstelle von Stadtgeschichte und Desasterforschung, denn während die sozialwissenschaftliche Analyse urbaner Katastrophen fast nie historisch argumentiert, nimmt sich die ,,wissenschaftliche Stadtgeschichtsschreibung [...] dem Moment der Zerstörung ihres Forschungsgegenstandes oft nur widerwillig und mit einem getrübten Blick" an (S. 14). Insofern ist die historische Aufarbeitung von Stadtzerstörungen - von Kriegen einmal abgesehen - bis heute ein überschaubares Feld.

Burkhard Meißner eröffnet den inhaltlichen Teil des aus einer Sektion des Historikertags in Halle hervorgegangenen Buches mit einem Beitrag über ,,Stadtzerstörung und Stadterneuerung" in der griechischen Antike, in dem er am Beispiel von Rhodos zeigt, wie die Einwohner die diversen Zerstörungen ihrer Stadt durch Überschwemmung, Belagerung und Erdbeben als Teil ihrer Identität anerkannten und in eine Erfolgsgeschichte ummünzten. Als verhältnismäßig kleine Bürgergemeinde besaß Rhodos nicht dieselben Möglichkeiten der Risikodistribution wie die sie umgebenden Großstaaten und war daher auf Kooperation und ,,symbolische Rückversicherung für den Fall eigener Hilfsbedürftigkeit" (S. 46) angewiesen. Wenn Meißner allerdings feststellt, dass Katastrophen ,,menschliche Siedlungen umso heftiger [treffen], je verdichteter diese sind" (S. 52), dann wird außer Acht gelassen, dass in ländlichen Regionen - abseits der urbanen Infrastrukturen, der Spendenkraft des Stadtbürgertums und der öffentlichen Aufmerksamkeit - das absolute Ausmaß der Zerstörung zwar oft gering ist, dieses in relativer Hinsicht aber nicht selten um ein Vielfaches über dem großer Konglomerationen liegt.

Stephan Conermann geht den Verarbeitungsmustern der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 nach, die von den ,,meisten Zeitgenossen als beispiellose Katastrophe angesehen wurde" (S. 54). Insbesondere der Sturz des Kalifensitzes und die Verschiebung des Zentrums der muslimischen Welt aus dem Zweistromland nach Kairo verlangten nach Verarbeitung. Conermann zufolge fand die ,,mentale Kittung des Traditionsbruches" (S. 97) durch Verschwörungstheorien (Verrat Bagdads an die Mongolen) und neue politische Konzepte statt, die die Frage der Eigenverantwortung für den Untergang umgingen bzw. dessen Konsequenzen mehr oder weniger ignorierten.

Wie selbstverständlich die Auseinandersetzung mit vergangenen Naturkatastrophen in der Vormoderne war, macht Gerhard Fouquets Beitrag deutlich. So stehen in spätmittelalterlichen Chroniken Heuschreckenplagen, Stürme und Überschwemmungen ,,gleichberechtigt neben der Erschaffung der Welt und der Abfolge der Weltreiche" (S. 101). Solche Chroniken nutzt Fouquet, um Rückschlüsse über zwei verheerende Stadtzerstörungen zu ziehen: das Erdbeben in Basel 1356 - das schwerste nördlich der Alpen - und das Großfeuer im oberhessischen Frankenberg 1476. Interessant ist dabei vor allem, neben der nicht leichten Rekonstruktion der Ereignisebene, dass in beiden Fällen straftheologische Argumente zwar häufig anzutreffen sind, dass Historie aber laut Fouquet auch als säkulare Ratgeberin fungierte - als Orientierungsfaden und Sinnstifterin für ,,Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der städtischen Genossenschaften", für die der Umgang mit Zerstörung alles andere als eine Ausnahme war (S. 131).

Christoph Strupps differenzierte Untersuchung über das Erdbeben und Großfeuer von San Francisco 1906 zeigt, wie produktiv gerade die historische Analyse von (Natur-)Katastrophen sein kann, wenn diese nicht als aus dem Kontext gelöste Extremereignisse betrachtet, sondern in die historischen Rahmenbedingungen eingebettet werden. Auf diese Weise kann Strupp sowohl die Entstehung von Vulnerabilitätsmustern, wie zum Beispiel die Errichtung eines Teils der Stadt auf aufgeschüttetem Sand, die für die gewaltigen Schäden ursächlich war, als auch den erstaunlichen Grad an Resilienz aufzeigen, der dafür sorgte, dass die Stadt trotz mehreren Tausend Toten, zeitweise 250.000 Obdachlosen und der Zerstörung von zirka 28.000 Gebäuden relativ schnell wieder auf die Beine kam. Außerdem wird deutlich, wie gering die ,,egalisierende" Wirkung der Katastrophe war und wie stark dagegen die ,,Kontinuität der politischen und sozialen Verhältnisse" wog (S. 154). Nur wenige Tage fanden sich ,,Reich und Arm, Angestellte und Arbeiter, Herrschaften und Dienstboten" gleichberechtigt oder eher gleich benachteiligt in den Notunterkünften und Warteschlangen wieder (S. 153).

Dass mit der Zerstörung einer Stadt auch ein realistisches Bild der Stadtgeschichte verschüttet werden kann, macht Matthias Meinhardt in seiner Analyse des Mythos vom ,,Alten Dresden" als ,,einer retrospektiv-eklektizistischen Stadtvorstellung" deutlich. Nach der Bombardierung der Elbmetropole durch die Alliierten im Februar 1945 wurde ein verklärtes Bild der vormodernen Stadt sowohl zum Sehnsuchtsort als auch zum Bauplan für den Wiederaufbau. Diese Entwicklung kann nur zum Teil durch die ohne Zweifel gewaltigen Verluste an Menschenleben, Kunstschätzen und imposanter Architektur erklärt werden. Der Mythos diente insbesondere dazu, die Wunden des Zweiten Weltkrieges wie auch der sozialistischen Abrisspolitik zuzudecken.

Mit einer ganz anderen Art der Zerstörung, nämlich der schleichenden, befasst sich auf über 70 Seiten Georg Wagner-Kyora. Unter dem sperrigen Titel ,,Graue Diven erfinden sich selbst: Akteurshandeln und Identitätskonstruktion in Entscheidungsprozessen über die Altstadtsanierung von Halle und Leipzig 1990 bis 2003" thematisiert Wagner-Kyora die baulichen Veränderungen dieser beiden Städte in der ,,Nachwendezeit" vor dem Hintergrund der jahrzehntelang ausgebliebenen Erhaltungsmaßnahmen. Insbesondere in Halle könne dieser Niedergang als ,,Katastrophenerfahrung" beschrieben werden, ,,auch wenn diese nicht durch ein Ereignis, sondern durch den Prozess des kontinuierlichen Verfalls ausgelöst wurde" (S. 212f.).

Insgesamt ist für die von Andreas Ranft und Stephan Selzer in Aussicht gestellte ,,vergleichende Perspektive" (S. 15f.) der Bogen ein wenig zu weit gespannt worden. Zu unterschiedlich sind die behandelten kulturellen und historischen Kontexte, als dass auf dieser Grundlage weitreichende Aussagen zur Geschichte der urbanen Katastrophenbewältigung gemacht werden könnten. Dies wäre eher die Aufgabe für einen Sonderforschungsbereich. Für Kohärenz sorgen aber die umsichtige Einleitung der Herausgeber und die kommentierenden Anmerkungen von Manfred Jakubowski-Thiessen am Ende des Bandes, die die sechs intensiv recherchierten und äußerst lesenswerten Fallstudien in der Forschungslandschaft verorten und Desiderate für zukünftige Arbeiten zu urbanen Katastrophen aufzeigen.

Uwe Luebken, München


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