ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Eckhard Dannenberg/Norbert Fischer/Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Land am Fluss. Beiträge zur Regionalgeschichte der Niederelbe, Landschaftsverband der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, Stade 2006, 237 S., geb., 19,80 €.

Was die ,,Niederelbe" ist, ergibt sich aus Hamburger Perspektive. Deutschlands ,,Tor zur Welt" liegt an der Nahtstelle zwischen Ober- und Niederelbe. Die Oberelbe kann nur von Binnenschiffen befahren werden, während auf der Niederelbe Ozeanriesen aus aller Welt den Hamburger Hafen ansteuern. Die Bedeutung der Niederelbe für die Weltwirtschaft steht in einem seltsamen Kontrast zur ländlich-kleinstädtischen Beschaulichkeit der Siedlungen am Fluss und in deren Umland. Auf den ersten Blick ist diese Flusslandschaft nicht leicht zu verstehen. Aber bei Planern, in den Verwaltungen, in Politik, Wirtschaft und in der gesamten Öffentlichkeit wird viel Verständnis für die Besonderheiten der Niederelbe gebraucht, weil Entscheidungen über sie anstehen: Wie tief darf, soll und kann die Fahrrinne ausgebaggert werden? Welche Maßnahmen des Hochwasserschutzes sind erforderlich? Welche neuen Landverkehrswege werden wie gebaut?

Dringend gebrauchte Informationen liefert der vom Landschaftsverband Stade herausgegebene Sammelband mit regionalhistorischen Beiträgen. In einem Einleitungsbeitrag geht der Historiker Franklin Kopitzsch auf literarische Zeugnisse zur Niederelbe ein. Vor allem stellt er ein Porträt dieser Gegend vor, das aus der Feder eines Geographen stammt: ,,Die Niederelbe" von Richard Linde erschien erstmals 1908 und wurde bis 1924 in fünf weiteren Auflagen nachgedruckt. Linde schrieb den Klassiker über die Niederelbe, eine Darstellung von literarisch hoher Qualität. Viele Bilder aus Lindes Buch sind dem gesamten Sammelband als Illustrationen beigegeben, Aufnahmen von großer Wirkung, die darauf verweisen, dass der Geograph nicht nur ein Meister des Wortes war.

Dirk J. Peters, Technikhistoriker am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, berichtet im folgenden Aufsatz über ein Projekt, in dem traditionelle Hafenanlagen erfasst wurden. Bis vor wenigen Jahrzehnten bestanden zahlreiche kleine Häfen an der Niederelbe, über die der lokale und regionale Handel zwischen den Flussmarschen und den Welthäfen, vor allem Hamburg, abgewickelt wurde. Viele dieser Häfen sind heute verlassen, und es besteht das denkmalpflegerische Problem, wie mit den Hinterlassenschaften einer jahrhundertelangen Hafenkultur umzugehen ist. Vor der Beantwortung dieser Frage steht die gründliche Dokumentation des Ist-Zustandes.

Heike Schlichting geht aus volkskundlich-historischer Perspektive auf Saisonarbeiter ein, die aus dem Lippischen vor allem nach Kehdingen kamen, um dort Ziegelton abzubauen und Ziegel herzustellen. Das Baumaterial fand besonders in Hamburg reißenden Absatz. Backstein war eines der zahlreichen regionalen Produkte, das aus den Elbmarschen nach Hamburg geliefert wurde.

Gerd-Michael Heinze, Artenschutzreferent im Niedersächsischen Umweltministerium, geht auf die besondere Bedeutung des Naturschutzes im Gebiet der Niederelbe ein. Zahlreiche seltene Pflanzen- und Tierarten kommen in dem Gebiet am Übergang von Fluss- zu Meereslebensräumen vor, in das Süß- und Salzwasser eindringen und sich zu Brackwasser vermischen. In den zeitweilig überfluteten, dann wieder trocken fallenden Bereichen rasten zeitweise Tausende von Zugvögeln.

Holger Martens, Historiker, stellt Künstler auf Finkenwerder vor, der Elbinsel im heutigen Stadtgebiet von Hamburg, die in den letzten Jahrzehnten intensiv umgestaltet wurde. Nicht nur zahlreiche Maler waren von den Kontrasten fasziniert, die sich zwischen traditioneller Fischerei und moderner Industrie ergaben. Aus Finkenwerder stammten auch die Dichter und Schriftsteller Gorch Fock und Rudolf Kinau. Bekannt ist der Ort zudem für sein plattdeutsches Theater.

Der Historiker und Archivar Jan Lokers befasst sich mit dem im Laufe von Jahrzehnten immer wieder verfolgten Projekt eines Kanalbaus zwischen dem Ruhrgebiet, Hamburg und Lübeck und zeigt auf, dass mehrmals der Baubeginn nahe bevorstand, aber das Projekt dann doch immer wieder in den Schubladen der Planer verschwand. Der ,,Hansa-Kanal" wurde nicht gebaut und er wird auch heute nicht mehr geplant.

Der Historiker Michael Ehrhardt und der Volkskundler Norbert Fischer stellen anschließend ihre umfangreichen Arbeiten zur Deichgeschichte an der Niederelbe vor, die kurz vor dem Sammelband als Monographien erschienen sind. Ehrhardt arbeitete über Deiche im Alten Land, Fischer über diejenigen in Kehdingen. Deiche sind die Voraussetzungen dafür, dass Marschen intensiv bewirtschaftet werden können. Insofern ist Deichgeschichte auch immer Marschengeschichte. Ehrhardt und Fischer belegen ihre Forschungen mit eindrucksvollen Kartenskizzen und schriftlichen Zeugnissen aus den Archiven.

Am Ende des Buches steht ein umfangreicher Beitrag des niederländischen Soziologen Otto S. Knottnerus, in dem er sich mit zahlreichen Aspekten des täglichen Lebens an der Niederelbe auseinandersetzt. Das Leben der Landarbeiter und Proteste dieser Menschen gegen zu geringe Entlohnung stehen im Zentrum. Dieser Artikel verweist vielleicht am deutlichsten auf ein besonderes Phänomen des Lebens in den Elbmarschen. Man kann dieses Gebiet nicht als rein ,,ländlich geprägt" bezeichnen. Die Lebensgewohnheiten, die üblichen Speisen, das Inventar der Häuser haben sich in engem Kontakt mit der Stadtbevölkerung, vor allem den Hamburgern, entwickelt. Wohlstand und, wie man sagen könnte, auch der Übermut, zahlreiche Feste zu feiern, und das selbst verliehene Recht, dafür einen Montag ,,blau" zu machen, griffen um sich, auch unter den Dienstboten.

Die Geestlandschaften in Schleswig-Holstein und Niedersachsen waren hingegen typische ländliche Räume. Die Region an der Niederelbe hob sich davon deutlich ab. Hier wurde zwar Landwirtschaft betrieben, aber von Menschen, die in einem intensiven Kontakt mit großstädtischer Bevölkerung standen. Die besonderen Spuren des Städtischen sind vielerorts im Schwinden begriffen. Weil die Bedeutung des Handels mit der Großstadt zurückgegangen ist, unterscheiden sich die Orte an der Niederelbe heute viel weniger von den Geestorten im Hinterland, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Viel Verständnis für die eigentümliche Welt an der Niederelbe lässt sich über historische Zusammenhänge gewinnen, wie sie in diesem sehr lesenswerten Band dargestellt werden. Wer diese Zusammenhänge kennt, wird einfühlsamer mit der Niederelbe umgehen, wenn in den kommenden Jahren möglicherweise weitere große Baumaßnahmen anstehen und neue Verkehrsinfrastrukturen geschaffen werden. Weder lässt sich die Fahrrinne des Flusses endlos vertiefen, noch lassen sich die Deiche ohne Ende erhöhen.

Das Buch wurde von einem niedersächsischen Landschaftsverband herausgegeben. Das ist am Inhalt zu erkennen. Denn der niedersächsische Teil der Niederelbelandschaft steht eindeutig im Zentrum des Buchs. Man sollte Wege suchen, wie man - etwa wie Richard Linde - auch heute den ganzen Niederelberaum noch ausgewogener darstellen könnte. Das ist schon deswegen notwendig, weil sich in den nächsten Jahren die Menschen, die nördlich und südlich des Flusses leben, auf ganz neue Weise näher rücken. Nämlich dann, wenn die Autobahn bei Stade die Elbe queren wird. Heute gibt es unterhalb von Hamburg kaum Fährverbindungen zwischen dem nördlichen und südlichen Elbufer. Es fahren wohl mehr Schiffe von Hamburg nach Nordamerika und Ostasien als von Stade nach Glückstadt. Das war früher anders; bis ins 20. Jahrhundert hinein herrschte ein reger lokaler Schiffsverkehr auf der Elbe. Künftig wird es mit dem Auto nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, den Fluss zu überqueren. Wie werden dann zwei lange getrennte Bevölkerungsgruppen wieder zueinander finden? Sie brauchen eine kulturell-historische Orientierung. Das wird eine besondere Herausforderung werden. Sie kann gelingen, aber dazu brauchen wir Forschungen und Darstellungen wie diejenigen, die in dem nicht nur lesenswerten, sondern auch ansprechend gestalteten Sammelband zur Niederelbe enthalten sind. Stärkeres Gewicht sollte auf die Darstellung des Gebiets an der Niederelbe als Gesamtraum gelegt werden, um dessen naturräumliche und kulturelle Einheit zu betonen.

Hansjörg Küster, Hannover


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