ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dittmar Dahlmann/Anke Hilbrenner/Britta Lenz (Hrsg.), Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa. Die Zweite Halbzeit, Klartext Verlag, Essen 2008, 400 S., Ill., kart., 27,90 €.

Nach einem fulminanten Auftakt im Jahr 2006 (1) geht die von der Bonner Abteilung für Osteuropäische Geschichte vorgelegte Geschichte des Fußballs in Ost- und Südosteuropa nun in die zweite Halbzeit. Eine geschlossene Gesamtdarstellung wollen und können die Herausgeberinnen und der Herausgeber dabei nicht bieten, da Vorstudien erst in zu geringem Maße existieren und die Quellenlage sich als zu disparat erweist (S. 8f.).

Wie im ersten Band wählen die Autorinnen und Autoren ein breites Spektrum von Zugängen. Neben überblicksartige Beiträge zu Bulgarien seit dem Zweiten Weltkrieg (Emil Mintchev), Lettland in der Zwischenkriegszeit (Margerita Imgrunt) und den internationalen Fußballkontakten der Sowjetunion bis zu ihrem FIFA-Beitritt 1946 (André Gounot) treten Grundlagenforschung zu weißen Flecken und Beiträge zu bislang unbearbeiteten Detailproblemen. Hierzu gehören etwa der Fußball in der sowjetischen Provinz, den Marsil N. Farkhshatov am Beispiel Baschkiriens in den Jahren 1970 bis 1985 untersucht, der Sport während der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg (Alexander Chertov), die Geschichte des Schweizerischen Arbeiterfußball-Verbands in den dreißiger Jahren (Christian Koller), die Geschichte des jüdischen Fußballs in Wien (Matthias Marschik) und die von politischen Wechselfällen geprägte Geschichte des rumänischen Vereins Universitatea Cluj (Sebastian Balta).

Eine dritte Gruppe von Beiträgen ist stärker theoriegeleitet und thesenorientiert. Ekaterina Emeliantseva verwirft in ihrem Beitrag die in der bisherigen Forschung vertretene These, der Sport habe eine ,,,demokratisierende' Wirkung auf die immer noch weitgehend ständisch verfasste russische Gesellschaft gehabt" (S. 14) und ersetzt dieses Pauschalurteil durch eine differenziertere Wertung der Bedeutung des Fußballs im ausgehenden Zarenreich. Am Beispiel des ,,Heiligen Kriegs" zwischen Wisła und Cracovia arbeitet Britta Lenz heraus, dass die ritualisierte Rivalität des Derbys auch eine integrative Wirkung entfalten konnte, weil es die Führungsrolle Krakaus im polnischen Fußball der Zwischenkriegszeit nach außen symbolisierte. Mit dem Verhältnis von Hooliganismus und Antisemitismus bei den polnischen Fußballfans greift Andreas Prokopf ein wichtiges Thema auf, setzt den Ball aber wuchtig ins eigene Tor: Die Erklärung, dass ,,in der polnischen Gesellschaft ein latenter Antisemitismus existiert" (S. 121) hat eine zu lange und zu komplexe historiografische Vorgeschichte (2), als dass man sie allein gestützt auf den Gründer einer Nichtregierungsorganisation, die sich dem Kampf gegen Faschismus und Rassismus verschrieben hat, als gegeben hinnehmen dürfte. Bogdan Popa legt dar, wie der Beruf des Fußballers in Rumänien zwischen den beiden Weltkriegen zu einem erstrebenswerten Modell des sozialen Aufstiegs werden konnte. Dittmar Dahlmann stellt sich nachdrücklich gegen die These vom unpolitischen Sport und macht deutlich, wie das Länderspiel der Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland, das 1955 kurz vor dem Kanzlerbesuch in Moskau stattfand, von der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten politisch instrumentalisiert wurde. Mit Material aus deutschen Archiven kann er belegen, dass die Anberaumung dieses Spiels bis in die höchsten Regierungskreise Unruhe und Verstimmung auslöste. Als Folge kam es auch zu Versuchen, politischen Druck auf den Deutschen Fußball-Bund (DFB) auszuüben. Methodisch reflektiert geht Matthias Kaiser an das Osteuropabild des Sportmagazins Kicker von 1962 bis 2006 heran und kommt zum Resultat, dass die Ost-West-Konfrontation in der deutschen Sportpresse zwar Spuren hinterließ, dass aber eine politisch motivierte Abwertung des Ostblocks weder als durchgängiges noch als dominantes Motiv identifiziert werden kann. Anke Hilbrenner schließlich bettet einmal mehr ihre sportgeschichtlichen Befunde mit Gewinn in einen größeren Kontext ein: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts drängten die jüdischen Fußballer in Osteuropa die kulturdeutschen Turner zurück, ja den osteuropäischen Juden kam innerhalb der jüdischen Turn- und Sportbewegung eine Pionierfunktion bei der Etablierung des modernen Sports Fußball zu. Dieses Ergebnis stellt, worauf Hilbrenner zu Recht hinweist, das in der Historiografie weiterhin wirkungsmächtige Stereotyp von der ,,Rückständigkeit" der ,,osteuropäischen jüdischen Massen" in Frage.

Die Autorinnen und Autoren haben den in der ersten Hälfte erspielten Vorsprung sicher verteidigt und sind ohne Schwierigkeiten eine Runde weitergekommen. Für das Finale - der dritte Band ist bereits angekündigt - möchte man als Zuschauer auf mehr überraschende Spielzüge in Form von innovativen Fragestellungen und theoriegeleiteten Beiträgen hoffen. Unabhängig davon bringt der vorliegende Band, der auch mit seinen sorgfältig ausgewählten Illustrationen zur Lektüre einlädt, die noch junge Sportgeschichte Osteuropas ein wesentliches Stück voran.

Stefan Wiederkehr, Warschau

Fußnoten:


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