ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Birger Dölling, Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR, Ch. Links Verlag, Berlin 2009, 483 S., brosch., 39,90 €.

In den Jahren nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stand überwiegend der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Fokus des Forschungsinteresses. Für allgemeine Fragen zum Strafvollzug der DDR muss man immer noch einen Blick in das inzwischen fast 30 Jahre alte Standardwerk von Gerhard Finn werfen. (1) Außerdem hat sich inzwischen Tobias Wunschik in zahlreichen Aufsätzen mit dem Strafvollzugswesen der DDR auseinandergesetzt. Leonore Ansorg schließlich legte eine umfassende Darstellung zu einer einzelnen Haftanstalt der DDR vor. (2) Zudem wurde - das deuten die aufgeführten Titel bereits an - der Blick meist auf die politischen Häftlinge der SED-Diktatur gelenkt. Diese Verengung des Sichtfeldes zu überwinden, hat sich Birger Dölling in seiner Dissertation vorgenommen.

Der Autor möchte dazu erstmals die Geschehnisse der Jahre 1989/90 in den Gefängnissen der DDR untersuchen sowie die Veränderungen in der Kriminalpolitik. Aus Material- und Machbarkeitsgründen konzentriert er sich im Wesentlichen auf die Anstalten in Brandenburg, Berlin und Bautzen. Gestützt auf die Überlieferung der DDR-Vollzugsbehörden sowie auf Zeitungen, Zeitschriften und Zeitzeugeninterviews will Dölling darstellen, wie die revolutionären Ereignisse dieser Jahre den Strafvollzug erfassten und grundlegend veränderten. Dazu schildert er im ersten großen Teil Strukturen, Funktionsweisen und Rechtsgrundlagen des Strafvollzuges in der DDR, zudem die Situation von Gefangenen und Vollzugsbediensteten vornehmlich in den achtziger Jahren. Dölling hat hier viele wichtige Fakten zusammengetragen, so dass diese Seiten auch als ,,Nachschlagewerk" zu allgemeinen Fragen des DDR-Strafvollzuges von Bedeutung sind.

Im folgenden zweiten Teil geht Dölling auf die politischen Ereignisse der Revolution in der DDR ein, den historischen Kontext seines eigentlichen Themas, bevor er den Fokus auf die Gefängnisse richtet. Diese waren durch die im Laufe des Jahres 1989 enorm gewachsene Ausreisebewegung und deren strafrechtliche Sanktionierung hoffnungslos überfüllt, worauf die taumelnde SED-Führung am 27. Oktober 1989 mit einer Amnestie reagierte, die insbesondere die Ausreisewilligen freisetzte. Ein weiterer Gnadenakt am 6. Dezember 1989 hatte faktisch die Entlassung aller politischen Gefangenen zur Folge. Gleichzeitig setzte eine ,,Öffnung" der Gefängnisse ein, auch weil sich Kirchen, Bürgerinitiativen und Medien Zutritt zu den Einrichtungen verschafften. Haftanstalten und -bedingungen sollten bis dahin eigentlich strengster Geheimhaltung unterliegen. Die schiere Masse an Gefangenen, die über die Jahre in der DDR an unterschiedlichen Orten einsaßen, macht es aber wahrscheinlich, dass nicht wenige über ihre Erfahrungen ,,plauderten". Gerüchte entstanden, beispielsweise über den harten Alltag im ,,Armeeknast" Schwedt. Letztlich war das sogar im Sinne der Machthaber, hatten die ,,Knastlegenden" doch meist eine abschreckende Wirkung, die Angst vor einer Inhaftierung schürte. Nicht vollends überzeugend ist daher die Annahme Döllings, dass die Bevölkerung bis dato nur wenig wusste über den Strafvollzug in der DDR, weil darüber kaum etwas bekannt gewesen sei (S. 230). Es scheint vielmehr, als wollten viele Menschen davon nichts wissen. Mutmaßlich waren die Gefängnisse eher Orte, mit denen der ,,Normalbürger" lieber nichts zu tun haben wollte (und desgleichen heute noch nichts zu tun haben will).

Auch in den Monaten der Friedlichen Revolution und der anschließenden Modifikation der politischen Landschaft Ostdeutschlands mussten die Gefangenen sich durch spektakuläre Aktionen wie Hungerstreiks oder Dachbesetzungen oft erst einmal Gehör verschaffen. Dölling kann im vierten Teil seiner Untersuchung nachweisen, dass Gefangene ebenfalls ihr Scherflein zu Veränderungen im SED-Staat beitrugen. Nachdem die revolutionären Verwerfungen das ,,Organ Strafvollzug" ebenso wie den gesamten Staat erschüttert hatten, nahmen in zahlreichen Anstalten die Inhaftierten ihr Schicksal in die Hand, bildeten Gefangenenräte, machten auf Probleme aufmerksam, stellten Forderungen, demonstrierten für eine Verbesserung der Haftbedingungen. Viele forderten nach dem Ende der Parteidiktatur weitere Amnestien, einige gar eine Generalamnestie, wieder andere wenigstens eine Revision ihrer Urteile. Gleichzeitig entfachten die Ereignisse bei den Bediensteten Resignation und Zukunftsängste. Aufbegehren der Inhaftierten und Orientierungslosigkeit der Strafvollzugsangehörigen führten in einigen Anstalten zu vielen ,,Freiheiten" für die Gefangenen bis hin zu schweren Sicherheitsproblemen. Spektakuläre Fluchten wurden so möglich, wie Dölling zeigen kann.

Die Wiedervereinigung bildete einen (vorläufigen) Schlusspunkt für die Ausnahmesituation im Vollzugswesen (Teil 5 des Buches). Ruhe kehrte wieder ein, aber die eigentlichen Umstrukturierungen standen nun mit der Installierung des bundesdeutschen Strafvollzugssystems erst an. Mit der Bildung der neuen Länder wurde das Gefängniswesen dort den Justizministerien unterstellt, viele DDR-Bedienstete allerdings übernommen, Urteilsüberprüfungen für die Gefangenen angestrengt. In Ostberlin wurden sogar alle ehemaligen DDR-Vollzugseinrichtungen geschlossen ebenso wie zahlreiche andere in den neuen Bundesländern.

Insgesamt wirkt die ereignis- und rechtsgeschichtliche Studie etwas steif. So ist die immer wieder sehr detaillierte und faktenreiche Schilderung an einigen Stellen für den Leser leider ermüdend. Durch die äußerst kleinteilige Gliederung wird der Lesefluss zusätzlich gebremst. Oft hätte man sich einen etwas weniger ,,juristischen" Duktus und gerafftere Ausführungen sowie plastischere Schilderungen gewünscht, weniger die ausführliche Beschreibung politisch-rechtlicher Verhandlungen und Entscheidungsfindungen, z.B. bei Amnestien. So ist die Darstellung der revolutionären Vorgänge in der DDR mit Sicherheit wichtig; ihr so viel Raum zu geben, wie der Autor das tut (z.B. in Teil 3), wäre aber nicht nötig gewesen, weil hier keine neuen Erkenntnisse vorgestellt werden. Bei der Analyse der Entwicklungen in Innenministerium und Gefängnissen hätte man die politische ,,Großwetterlage" an entsprechender Stelle mit einfließen lassen können.

Nichtsdestotrotz muss betont werden, dass Birger Dölling das Verdienst anzurechnen ist, sich mit einem bislang unbeachteten Aspekt der DDR-(Strafvollzugs-)Geschichte tiefgründig auseinandergesetzt zu haben. Er hat eine sehr wichtige Studie verfasst, die die Revolution in der DDR in den ,,Zentren der Repression" (Hubertus Knabe) sachkundig darstellt. Zahlreiche Leser sind der Publikation nur zu wünschen, erfährt man doch sehr viel Interessantes über den DDR-Strafvollzug der achtziger Jahre, über die Revolution in der DDR und in ihren Gefängnissen. Zudem ist meines Erachtens von großer Wichtigkeit, dass Dölling den Schritt weg von der Fokussierung auf die politischen Häftlinge gewagt hat. Deren unrechtmäßige Inhaftierung und oft menschenverachtende Behandlung durch das Gefängniswesen des SED-Staates stehen außer Frage. Der in vielerlei Hinsicht in Theorie und Praxis äußerst rückständige Strafvollzug der DDR war aber auch für kriminelle Inhaftierte nicht weniger menschenunwürdig.

Marcus Sonntag, Erfurt

Fußnoten:


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