ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Nikolas Dörr, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Parlamentarischen Rat 1948/1949. Eine Betrachtung der SPD in den Grundgesetzberatungen vor dem Hintergrund der ersten Bundestagswahl 1949, Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2007, 138 S., kart., 17,90 €.

Wieso hat die SPD die Bundestagswahl von 1949 verloren? Dies herauszufinden ist das Erkenntnisinteresse der Studie von Nikolas Dörr, und diese Frage scheint Dörr umso dringender einer Erklärung zu bedürfen, als die SPD mit einem ,,moralischen Bonus, den sie als größte Partei des Widerstandes 1945 inne hatte" (S. 10) in das Rennen um die Macht gegangen sei. Die Antwort und der Grund, warum wir die Antwort nicht kennen, liegen nach Dörr in der Geringschätzung des Parlamentarischen Rats als Ort des Politischen, einerseits durch die SPD, die es versäumte, den Parlamentarischen Rat als Schaufenster ihrer Politik zu nutzen, andererseits durch die Forschung, die sich mehr für die Entstehung der Artikel des Grundgesetzes interessiert habe als dafür, welche historischen Fehler die Parteien im Umgang mit dem Parlamentarischen Rat begingen. Entsprechend verortet Dörr seine Arbeit in der historisch orientierten Politikwissenschaft und versucht, diesem Mangel abzuhelfen.

Die Spur, die uns der eher schmale Band zur Lösung des Rätsels weist, ist breit angelegt. In sechs Kapiteln wird die alliierte Besatzungspolitik als Grundlage der Arbeit des Parlamentarischen Rats ebenso abgehandelt wie die Geschichte der Rekonstruktion der SPD, ihre Personalpolitik und ihre Verfassungskonzepte sowie einige ausgewählte Problemstellungen der Beratungen des Parlamentarischen Rats und der Wahlkampf 1949. Dabei gelingt es Dörr, in seinem kleinen Buch eine geraffte, rasche Übersicht zur Politik der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit zu geben und wesentliche Probleme dieser Politik aufzuzeigen: die Konzentration der SPD auf den kranken Schumacher als Führungsfigur und dessen Versuch, durch verbalen Radikalismus die klassischen Wähler der Sozialdemokratie erneut anzusprechen, die Fehleinschätzung der Bedeutung des Parlamentarischen Rats und der Verfassungsgebung unter den Vorzeichen der Provisoriums-Theorie, der Verzicht auf das Amt des Ratspräsidenten.

Die Kenntnis über die referierten Ereignisse ist nicht neu; neu ist nach Dörr sein politikwissenschaftlicher Zugang, der darin besteht, die einzelnen Elemente der sozialdemokratischen Politik nicht aus ihren historischen Bedingungen erklären zu wollen, sondern sie konsequent als politische Fehler zu deklarieren. Das zeitgenössische Bewusstsein der Akteure kümmert ihn dabei wenig und so verschenkt er die Möglichkeiten, die ein Anknüpfen an den Forschungsstand geboten hätte. Es wäre zum Beispiel interessant gewesen, einmal in Auseinandersetzung mit den Thesen Julia Angsters (1) zu untersuchen, inwieweit nicht in dem Versuch, das sozialdemokratische Milieu zu rekonstruieren und die Fehler der Politik in der Weimarer Zeit nachholend zu korrigieren, ein Sinnhorizont von Politik aufscheint, der zum Beispiel bei Schumacher aus den fehlenden Erfahrungen des Exils resultiert und warum sich nicht solche Sozialdemokraten stärker durchsetzen konnten, die nach Angster im Exil ,,westernisiert" worden waren und somit über zukunftsfähigere Politikmodelle verfügten. War die Orientierung an Weimarer Erfahrungen für die Sozialdemokraten überhaupt als Fehler erkenntlich, und wenn ja, für welche Sozialdemokraten? Hinweise dazu bieten die - wiederum bekannten - Zerwürfnisse innerhalb der Partei, besonders zwischen Parteivorstand und Fraktion.

Fehler waren nach Dörr solche Entscheidungen der Partei, die nicht zu einer Mobilisierung der Wähler führten, die nicht die Öffentlichkeit erreichten oder an deren Bedürfnissen vorbeigingen und deswegen zum Verlust der Wahl von 1949 führten. Quellenbelege für die oft behauptete sozialdemokratische Unfähigkeit, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, fehlen aber in Dörrs Untersuchung - ausgenommen der nicht wegzudiskutierende Verlust der Wahl. Da dieser aber eben erklärt werden sollte, wirkt die Argumentation Dörrs streckenweise etwas zirkulär. Ein Grund dafür scheint Dörrs eigenes Politikverständnis zu sein: In seinem Buch machen große Männer, vereinzelt Frauen, insgesamt Politiker, die Geschichte. Die Öffentlichkeit bleibt ein Abstraktum, das den Input der Großen durch den Output des Wahlergebnisses in ein im Ringen um die Macht instrumentell verstandenes Richtig und Falsch scheidet. Anstatt zu untersuchen, was Öffentlichkeit denn in der Nachkriegszeit bedeutete und damit festzustellen, wie die Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft überhaupt organisiert war und die Möglichkeiten von Politik zu bestimmen, gesellschaftliche Erwartungen überhaupt wahrnehmen und beantworten zu können (2), scheint Dörr ein Politikverständnis auf die Nachkriegszeit zu projizieren, das in der Medienlandschaft am Ende des 20. Jahrhunderts in dem Bonmot sinnfälligen Ausdruck fand, man brauche zum Regieren nur ,,Bild, BamS und die Glotze".

Alexander J. Schwitanski, Oer-Erkenschwick

Fußnoten:


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