ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Roland Flade, Dieselben Augen, dieselbe Seele. Theresia Winterstein und die Verfolgung einer Würzburger Sinti-Familie im ,,Dritten Reich" (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 14), Verlag Ferdinand Schöningh, Würzburg 2008, 233 S., kart., 17,80 €.

,,Wir bewunderten meine Mutter für ihre Stärke. Diese Stärke übertrug sie auf die anderen Familien und die KZ-Überlebenden. Wenn wir abends vor den Baracken oder den Wohnwagen saßen, sagte sie oft: ,Zeigt nie, wie es in euch aussieht!'", so Rita Prigmore, die Tochter Theresia Wintersteins, einer Würzburger Sintezza, die im August 1943 während des Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurde, ebenso wie ihr Bruder Kurt. Dieser begann noch 1942 eine Ausbildung zum Reserveoffiziersanwärter der Wehrmacht, wurde dann aber aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus aus derselben ausgeschlossen. Theresia Winterstein selbst trat noch 1940 im Würzburger Stadttheater in der Oper ,,Carmen" auf, eine Oper, die das vermeintlich ungebundene freie Leben der ,Zigeuner' idealisiert, während zeitgleich die rassistischen Stereotypen gegenüber den Sinti und Roma in einer ersten Deportation in den Osten eskalierten. Theresia Winterstein brachte im März 1943 ihre beiden Töchter Rita und Rolanda in der Universitäts-Frauenklinik zur Welt, sie war nicht zur Abtreibung gezwungen worden wie so viele andere, da sie Zwillinge erwartete. Nach der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus galten Zwillinge aus einer als ,,reinrassig" eingestuften Sinti-Familie als interessante Forschungsobjekte für die medizinischen Experimente der NS-Mediziner und -Wissenschaftler. Trotz vieler Untersuchungen und Gutachten konnte bis heute nicht geklärt werden, ob und wenn ja zu welchen medizinischen Versuchen die Zwillinge Rita und Rolanda hinzugezogen wurden, allerdings spricht grundsätzlich vieles dafür.

Aufgrund einer polizeilichen Verfügung wurden die Zwillinge Rita und Rolanda Anfang März in die Universitätsklinik eingewiesen, der Mutter war jeglicher Kontakt untersagt. Am 16. April 1943 widersetzte sich Theresia Winterstein den Anordnungen und versuchte ihre Kinder zu sehen. Nach einer Auseinandersetzung wurde ihr nur Rita, die einen Kopfverband trug, gezeigt: Die andere Tochter, Rolanda, war während des Klinikaufenthalts bereits am 11. April 1943 verstorben. Rita leidet seit ihrer frühesten Kindheit an gesundheitlichen Problemen, deren Ursachen bis heute nicht geklärt werden konnten, nicht zuletzt aufgrund der Vernichtung der meisten Kranken- und Verwaltungsakten der Klinik am 16. März 1945, dem Tag der vernichtenden Bombardierung Würzburgs durch eine englische Fliegerstaffel. Mehrere Angehörige der Familie Winterstein erlebten die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht, sie waren nach Auschwitz-Birkenau in das sogenannte Zigeunerlager deportiert worden, nur wenige überlebten das Lager. Die eingangs so bewunderte Stärke von Theresia Winterstein hatten sowohl Rita Prigmore als auch die anderen wenigen überlebenden Sinti in der Aufarbeitung des im Nationalsozialismus erlittenen Unrechts nötig.

Roland Flade gelingt im vorliegenden Band eine überzeugende Darstellung der Verfolgungsgeschichte der Würzburger Sintezza Theresia Winterstein während des Nationalsozialismus, mehr noch, die Darstellung ihrer Lebensgeschichte im Zusammenhang mit ihrer Familiengeschichte bis in die heutige Zeit. Auch wenn der Band sich ganz konkret mit einer Person und einer Stadt, nämlich Würzburg, beschäftigt, ist er auch überregional von Bedeutung. Der Lebensweg Theresia Wintersteins im Nationalsozialismus und der Versuch der Aufarbeitung in der BR Deutschland sind beispielhaft für viele andere im ,Dritten Reich' verfolgte Sinti und Roma.

Mit dem Ende des nationalsozialistischen Deutschlands erlebten die Angehörigen der ermordeten Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und/oder in anderer Weise massiv existenziell Geschädigten nicht automatisch und augenblicklich Entschädigung für das erlittene Unrecht.

Theresia Winterstein kämpfte jahrzehntelang sowohl um eine Entschädigung für die an ihr vorgenommene Zwangssterilisation als auch für ihre Tochter Rita. Erst 1987 nach langen zermürbenden Auseinandersetzungen bekam Rita Prigmore Recht. Ein ärztliches Gutachten erkannte zuvor ihre auf 60 Prozent geminderte Erwerbsfähigkeit an, diese Minderung sei ,,ausschließlich auf verfolgungsbedingte Schäden zurückzuführen". Mit Sicherheit bedeutete das erst im Mai 2005 in Würzburg in Domnähe aufgestellte Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma sehr viel für die 2007 verstorbene Theresia Winterstein, da sie sich grundsätzlich für eine Rehabilitierung und Entschädigung der Überlebenden Sinti und Roma einsetzte. Ihre Tochter Rita nahm an der Denkmalsenthüllung teil.

Robert Flade beschäftigte sich auch mit den konkreten Tätern im Zusammenhang mit der Verfolgungs- und Leidensgeschichte der Würzburger Sinti. Diese konnten i.d.R. ihre beruflichen Karrieren nach 1945 ungebrochen fortsetzen: Der Polizeibeamte Christian Blüm, verantwortlich für die Anordnung von Deportationen und Zwangssterilisationen, war bereits 1952 wieder als Polizeibeamter tätig, 1953 schon als Kriminalsekretär. Auch der Direktor der Würzburger Universitätsklinik Carl Joseph Gauß wurde zwar 1945 von den amerikanischen Militärbehörden seines Amtes enthoben, jedoch arbeitete er bereits 1947wieder in einer gynäkologischen Praxis in Bad Kissingen. Dort führte er in der Folge bis zu seinem 80. Lebensjahr die gynäkologische Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses. Niemand interessierte sich für seine Arbeit während des Nationalsozialismus oder seine Begeisterung für dessen menschenverachtende Ideologie. Auch die skandalöse Einführung der Landfahrerverordnung 1953 in Bayern, eine erneute rechtliche Diskriminierung der Roma und Sinti, anknüpfend an das ,,Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen" von 1926 wird von Flade kurz erläutert. Mehr als deutlich wird, dass eine heute historisch mögliche umfassende Auseinandersetzung mit den Tätern nach wie vor aussteht, sicherlich aber zum vollständigerem Verständnis der nationalsozialistischen Gesellschaft notwendig wäre.

,,Die Beschäftigung mit der Geschichte einer Sinti-Familie stellt für den Außenstehenden eine Herausforderung dar, selbst wenn, wie in diesem Fall, die Quellenlage gut ist. Außer den Akten der Gestapo im Staatsarchiv Würzburg sind vor allem die mehreren Hundert Seiten umfassenden Unterlagen im Staatsarchiv München zu nennen, die das Spruchkammerverfahren gegen den Würzburger ,Zigeuner'-Referenten Christian Blüm betreffen. Doch auch diese Dokumente geben den Blick von außen wieder. Um mich wenigsten ansatzweise in das Denken und Fühlen der Sinti hineinversetzten zu können, waren zahlreiche geduldige Antworten nötig, die mir Rita Prigmore auf meine unzähligen Fragen gab" (S. 205), so der Autor Roland Flade. Rita Progmore unterstützte den Autor auch durch die Zurverfügungstellung zahlreicher Fotografien, die auf sehr einprägsame und persönliche Weise das Erzählte bildhaft und sehr menschlich verdeutlichen. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr unser heutiges Wissen über den Nationalsozialismus gerade durch die Bereitschaft der Opfer geprägt ist, nicht ohne Schmerz für diese, ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben.

Raphaela Kula, Bielefeld


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