Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hrsg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Third Revised Edition, Peter Lang Verlag, Bern/Berlin etc. 2005 (International and Comparative Social History, Bd. 4), 454 S., kart., 62,00 €.
Der von den niederländischen Migrationshistorikern Jan und Leo Lucassen herausgegebene Sammelband erschien erstmals 1997 und erlebte wegen der durchweg hohen wissenschaftlichen Qualität und der anhaltenden Nachfrage 2005 eine dritte, überarbeitete Auflage. Das Buch vereint namhafte Migrationsforscherinnen und -forscher und soll, wie es der Titel bereits signalisiert, mehr sein als lediglich eine weitere historische Spezialstudie zum Thema. Auch zwölf Jahre nach Erscheinen der Erstauflage ist die Lektüre immer noch lohnenswert, so viel sei vorweggenommen. Die verschiedenen Beiträge des Sammelbands sind gut aufeinander abgestimmt und vertreten durchgehend mehrere zentrale Thesen: 1. Für Migranten waren soziale Netzwerke eminent wichtig, da sie sowohl die Entscheidung zur Migration förderten als auch den Aufenthalt häufig strukturierten; 2. Migration kann nicht als Zeichen einer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Krise gedeutet werden, grenzüberschreitende Bewegungen sind vielmehr zu allen Zeiten normal gewesen; 3. Eine starre Aufteilung nach freier und unfreier Migration ist gegenüber der historischen Realität oftmals unangemessen, da sehr oft Mischformen und fließende Übergänge existierten. Die Herausgeber diskutieren diese Punkte ebenfalls in ihrer Einleitung und plädieren für eine Forschungsperspektive über die erste und zweite Migrantengeneration hinaus, um eine Ethnisierung zu vermeiden und auch Assimilationsprozesse analysieren zu können. Historische Migrationsforschung müsse zudem in die ,,mainstream history" integriert werden. Diese Aufforderung richtet sich sowohl an die Migrationsexperten als auch an die übrigen Historiker, die sich mit diesem zentralen Aspekt menschlichen Handelns häufig immer noch zu wenig befassen.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Kapitel ,,Theory and Methodology" reflektieren Leslie Page Moch, Nancy L. Green und Dirk Hoerder die Analyse von Migrationsprozessen. Moch diskutiert Fragen der Periodisierung europäischer Migrationsgeschichte und unterteilt diese in eine vorindustrielle Phase (bis 1750), frühe Industrialisierung (1750-1850), Industrialisierung und Urbanisierung (1850-1970) und eine postkoloniale Epoche (seit 1970), wobei sie die Relevanz wirtschaftlicher Faktoren betont. Green behandelt die komparatistische Perspektive und erkennt darin ein großes Potenzial, um über den jeweiligen nationalen Rahmen hinauszugehen. Sie unterscheidet drei verschiedene Modelle (linear, convergent, divergent), wobei das erste die Situation zwischen Herkunftsort und Aufnahmeland vergleicht, das zweite verschiedene Migrantengruppen und das dritte schließlich die Migrationserfahrung einer bestimmten Gruppe an verschiedenen Orten. Dirk Hoerder argumentiert, Migration habe historisch eine ausgleichende Funktion ausgeübt, und vergleicht sowohl die Makroebene als auch die Netzwerke von Migranten.
Der zweite Hauptteil ,,Between Free and Unfree Labor" besteht aus sechs Artikeln, die Mischungsverhältnisse zwischen den beiden genannten Polen beleuchten. David Elis zeigt den Zusammenhang von englischer Migration nach Nordamerika und dem transatlantischen Sklavenhandel auf, da die Zahlen englischer Siedler nach 1660 abnahmen und dies mit einer steigenden Zahl an Sklaven kompensiert wurde. Pieter C. Emmer fragt in globaler Perspektive ,,Was Migration Beneficial?" und betont den Umstand, dass die jeweiligen Herkunftsregionen ökonomisch von Migrationen profitierten und Unterschiede in den Lohnniveaus angeglichen wurden. Ralph Slomowitz vergleicht zwangsweise und freie Migration in das koloniale Australien mit vertraglich geregelter Arbeitsmigration aus Indien und argumentiert, dass Vertragsarbeiter keineswegs nur zwangsweise, sondern durchaus auch aufgrund eigener Entscheidungen migrierten. Eric Richards vertieft die Migrationsgeschichte des kolonialen Australiens und unterscheidet zwischen vom britischen Staat unterstützten und finanzierten Migranten (,,assisted immigrants"), freien Migranten (,,unassisted") und schließlich chinesischen Migranten. Das große Potenzial des Vergleichs für die Historische Migrationsforschung verdeutlicht auch Donna Gabaccia, indem sie mit italienischen und chinesischen Arbeitsmigranten zwei weltweit verbreitete Gruppen und ihre Migrationserfahrungen gegenüberstellt. Sowohl chinesische ,,Kulis" als auch italienische Migranten, bezeichnenderweise auch als die ,,Chinesen von Europa" tituliert, lösten regelmäßig Bedrohungsszenarien aus. Arjan de Haan untersucht Binnenwanderung am Beispiel von Arbeitern in Kalkuttas Jute-Industrie im 20. Jahrhundert und kann aufgrund von Feldforschung nachweisen, wie eng die Bindung an die zumeist dörfliche Herkunft auch nach Generationen noch sein kann.
Der dritte und letzte Teil des Buchs ,,Migration and Its Enemies" widmet sich den staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf Migranten. Leo Lucassen untersucht die staatliche Politik gegenüber umherziehenden Gruppen in Europa zwischen 1350 bis 1914 und kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl die geografische Lage als auch insbesondere die seit dem 15. Jahrhundert entstandene Armenfürsorge die Kategorien ,,Vagabund" und ,,Zigeuner" erst schufen und eine repressive staatliche Politik gegenüber Nichtsesshaften anschoben. Ida Altman arbeitet die bislang vernachlässigte Bedeutung der spanischen Migration nach Amerika im 16. Jahrhundert heraus und zeigt auf, dass der Rückgang der indigenen Bevölkerung mit afrikanischen Sklaven kompensiert wurde. Georg Fertig kontrastiert die hohe Mobilität im Deutschland des 18. Jahrhunderts mit den Diskursen über die Ursachen der Migration und analysiert u.a. die Wahrnehmung einer ,,Überbevölkerung". Aristide Zolberg erklärt in seinem instruktiven Beitrag das Entstehen der ,,Great Wall Against China" und deutet die versuchte Abschottung der westlichen Welt gegenüber chinesischen Migranten als einen Aspekt der Wahrnehmung der Globalisierung. Die drei letzten Artikel von Colin Holmes, Kenneth Lunn und Robin Cohen widmen sich schließlich britischer Migrationsgeschichte und vor allem den Reaktionen auf Einwanderung. Holmes untersucht Negativbilder von Migranten und Flüchtlingen im 19. und 20. Jahrhundert und streicht den zeitgenössischen Fokus auf osteuropäische Juden heraus, der auch den Beginn einer Migrationskontrolle mit dem ,,Aliens Act" von 1905 bewirkte. Lunn analysiert ebenfalls Reaktionen auf Migranten vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und warnt vor zu einfachen Generalisierungen, etwa bezüglich der Haltung der Arbeiterbewegung gegenüber Migranten, und plädiert deshalb für eine Berücksichtigung der lokalen Ebene. Cohen interpretiert Deportationen von Migranten schließlich als einen Ausdruck der Nationsbildung, da der Staat mittels Ausweisungen dokumentierte, wer sich aufgrund seiner ,,rassischen" und kulturellen Differenz (otherness) nicht im Vereinigten Königreich aufhalten sollte.
Die Beiträge des Buchs sind durchgängig sehr informative und dichte Abhandlungen. Das Konzept des Sammelbands ist für die Historische Migrationsforschung insgesamt hilfreich, da es vor Augen führt, dass bei der Analyse von Migration sowohl die historischen Akteure als auch der Staat und die Politik sowie die Aufnahmegesellschaften betrachtet werden müssen. Die verschiedenen Perspektiven, die sozialen Netzwerke der Migranten und die staatlichen Entscheidungen werden auch zukünftig aufeinander bezogen werden müssen. Die Einteilung der Beiträge in die jeweiligen Kapitel ist bisweilen etwas fraglich, und trotz der beabsichtigten globalen Perspektive können die Artikel natürlich nicht alle relevanten Aspekte weltweiter Migrationsgeschichte abdecken. Der Band ist auch heute noch sehr lesenwert und kann die Historische Migrationsforschung nach wie vor zu einer Verfeinerung der methodischen Zugänge anregen.
Lars Amenda, Hamburg/Osnabrück